Wenn Fotografien „True Stories“ erzählen

Die aus 494 Polaroid-Aufnahmen bestehende Arbeit der Kölner Fotografin Antonia Gruber ist eine der 14 Arbeiten der vierten Meisterklasse der Ostkreuz-Schule für Fotografie. Mehr als 2.000 Menschen sahen die Ausstellung "True Stories" im Kunstquartier Bethanien. Foto: Ralf Bittner

Die vierte Meisterklasse der Ostkreuzschule für Fotografie lockt mit überzeugender Ausstellung rund 2.500 Besucher ins Berliner Bethanien. Zwei der 14 Fotografinnen und Fotografen kommen aus Nordrhein-Westfalen.

Sechs großformatige Bilder schweben im Raum und zeigen an Edelsteine erinnernde Gebilde auf schwarzem Grund. In der Rotunde am hinteren Ende des Studio 1 im Berliner Kunstquartier Bethanien schwebt das an ein Mosaik erinnernde Bild [zɛlpstpɔrtrɛː]. Aus exakt 494 Polaroids setzt sich dieses Selbstportrait zusammen. Unter der rechten Empore treten die Selbstporträts einer werdenden Mutter aus den 1980ern in Dialog mit dem heutigen Ich der Fotografin. Links erzählen skurrile Fotos von Menschen in einem offensichtlich winzigen Ort seltsame Geschichten.

14 Positionen, 14 Bilder von Wirklichkeit

Das sind vier der 14 Positionen, mit denen sich Ralf Bittner, Eddie Bonesire, Antonia Gruber, Nele Gülck, Nina Hansch, Attila Hartwig, Alexander Kadow, Alexander Klang, Heidi Krautwald, Anja Putensen, Natalya Reznik, Alina Simmelbauer, Magdalena Stengel und Tim Love Weber ihre Bilder von der Wirklichkeit machen. Formalästhetisch und thematisch mit unterschiedlichsten Mitteln machen die Fotografinnen und Fotografen die Vielschichtigkeit der Realität sichtbar, und nicht alle brauchen dafür eine Kamera. In den Arbeiten treffen Beobachtungsgabe und Vorstellungsvermögen auf Geschichten aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Fast zwei Jahre Arbeit

Fast zwei Jahre hat die geografisch und biografisch mehr als heterogene Gruppe unter der Leitung von Prof. Ute Mahler (Fotografin / Mitbegründerin der Agentur Ostkreuz) und Ingo Taubhorn (Kurator des Hauses der Photographie/Deichtorhallen Hamburg) in der Meisterklasse ihren eigenen Blick auf die Wirklichkeit in freien dokumentarischen und künstlerischen Arbeiten entwickelt. Mit Antonia Gruber aus Köln und Ralf Bittner aus Herford kommen zwei Absolventinnen und Absolventen auch aus NRW. Dazu ist die Arbeit „Das Gut“ der Hamburgerin Anja Putensen inzwischen im Bielefelder Kerber-Verlag als Buch erschienen.

Die Geschichte hinter den Bildern klingt nach

Die schwebenden Edelsteine sind in Wirklichkeit „Baltic Amber“, Ostsee-Bernstein. So nennt der jetzt in Berlin lebende Alexander Kadow seine Arbeit. Er schob am Strand gefundenen Bernstein direkt in den Vergrößerer, keine Kamera war an der Entstehung beteiligt. Für die kühl-edlen Farben sorgt der analoge Prozess im Labor. Ausgangspunkt seiner Arbeit waren jedoch die tödlichen Hinterlassenschaften der Weltkriege auf dem Ostseegrund. Aus alten Granaten ausgeschwemmter Phosphor kann mit Bernstein verwechselt werden. Diese Geschichte ist auf den Bildern zwar nicht zusehen, schwingt aber untergründig auf einer zweiten Ebene mit.

Baltic Amber
Aus der Serie “Baltic Amber”, die Alexander Kadow in der Ausstellung “True Stories” vorstellte. Foto: Alexander Kadow
Selbstporträt in 494 Einzelbildern

Grubers 494 Polaroids erzählen zwei Geschichten, die einander durchdringen. Aus der Ferne bilden die 494 Bilder pixelgleich ein großes Bild. Was es zeigt bleibt offen. Die einzelnen Bilder, alle analog als Selbstbildnisse entstanden, zeigen Körperpartien, bedrohliche Schatten und immer wieder Hände, Hände, Hände – Mal in Abwehrhaltung, mal aggressiv nach den Körperteilen greifend. Wer sich nicht vom analogen Medium oder der Hinwendung zum Selbstporträt in einer von Selfies mit ihrer Oberflächlichkeit geprägten Welt ablenken lässt, erkennt, dass Gruber – mit 26 Jahren, die jüngste in der Gruppe – in ihren Selbstportraits ihre Rolle als Frau, innere Konflikte, Selbst- und Fremdwahrnehmung und Gewalterfahrungen verarbeitet.

Eine Frau im Dialog mit sich selbst

„In der Zwischenzeit“ hat die Kieler Fotografin Heidi Krautwald ihre klassisch-dokumentarischen sowie inszenierten Selbstbildnissen benannt. Begonnen hat sie die Arbeit 1984 mit der Geburt des ersten Kindes, wieder aufgenommen im Zuge der Meisterklasse. Mit der Arbeit setzt sie sich mit ihren sozialen Rollen als Frau, Geliebte und Mutter fotografisch auseinander.

Aus der Selbstporträt-Serie “In der Zwischenzeit”. Foto: Heidi Krautwald
Ein Stadtportät als Gesellschaftsporträt

„Zwischenland – Versuch über ein Idyll“ hat Ralf Bittner seine Arbeit genannt. Bittner, tagsüber Fotograf für eine Regionalzeitung in Herford, beschäftigt sich mit den langfristigen, oft kaum wahrnehmbaren Veränderungen in seiner Heimatstadt. Dabei interessieren ihnen weniger die städtebaulichen Veränderungen, sondern das, was sie mit den Menschen – die in seinen Bildern kaum auftauchen – machen. Er verbindet die Grammatik eines Ortes mit einer visuellen Poesie eines urbanen Romantikers, die aber auch mal düster ausfallen darf. Das, was er zeigt, könnte überall sein. Eine Mittelstadt wird zum Sinnbild einer Gesellschaft, die vor großen Veränderungen steht und darauf nicht nur – aber auch – mit Abwehr und Abschottung reagiert.

Die ruhigen Bilder des Fotografen Ralf Bittner entstanden in Herford, erzählen aber in leisen Bildern von einer Gesellschaft zwischen Veränderung und Abschottung. Foto: Ralf Bittner
Ein Porträt als Beispiel für fast 100 Jahre euopäischer Geschichte

Der in Berlin lebende Belgier Eddie Bonesire erzählt anhand von „geerbten“ Materialien, alten und neuen Fotografien die Lebensgeschichte von „Monsieur W.“ (1914-2009). „Monsieur W.“ erlebte zwei Weltkriege und den Niedergang der belgischen Stahlindustrie, und so erzählt Bonesire auch ein Stück belgische und europäische Geschichte.

Ein Stück unbekannte DDR-Geschichte

Die Berlinerin Alina Simmelbauer, Tochter eines kubanischen Vertragsarbeiters, der Anfang der 80er Jahre in der DDR zu Gast gewesen war, hat in „Garcias Tochter“ ihre und Familiengeschichten rekonstruiert, die ihrer eigenen ähneln und lenkt den Blick auf einen wenig bekannten Teil der DDR-Geschichte.

Vom Selbstverständnis als Fotograf

In „Prelight Days“ hat sich Attila Hartwig (Berlin) mit seinem Bildarchiv der letzten zwei Jahrzehnte sowie seinem damit verbundenen Selbstverständnis als Fotograf konfrontiert. Er zeigt erstmals Material, das nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war, als eigenständiges Werk.

Schwarzweiß-Porträts aus den Metropolen der Welt

Über Instagram findet der Berliner Fotograf Alexander Klang die Menschen, mit denen er sich in den Metropolen der Welt für ein-, höchstens zweistündige Fotosessions verabredet. Seine zeitlosen analogen Porträts entstehen auf Mittelformat und ziehen sofort in den Bann. Worum es ihm geht, verrät der Titel der Arbeit: Portraits.

Das Märchen vom guten Berg

Eingeschlossen von den Morava-Bergen im Süden Albaniens und stehengeblieben in der Zeit, hat die Hamburgerin Nele Gülck einen mythischen Ort entdeckt. „Der Gute Berg“ heißt er. Den wollen zwar alle verlassen und vergessen nie eine Handvoll Erde mitzunehmen, die sie erinnern und beschützen soll. Ganz nebenbei ist der Berg verschiedenen Religionen heilig und ist so ein märchenhaftes Bild für eine Welt, in der alle Menschen friedlich miteinander leben können.

Im Dialog mit dem Menschsein

Der Schweizer Tim Love Weber fotografierte Menschen, während er mit ihnen philosophische Fragen über den Sinn des Lebens diskutierte. Sein „Dialog mit dem Menschsein“ konfrontiert in großformatigen Bildern die Betrachter mit Fragen nach der menschlichen Existenz.

Die skurrile Normalität über dem Atommüll-Lager

„800 Meter tief“ heißt die Serie der Berlinerin Nina Hansch. Die skurrilen Bilder dörflichen Lebens entstanden in Groß Vahlberg, einem Ort der fast genau über dem vom maroden Atommülllager Asse II liegt. Die unsichtbare Bedrohung liegt wie ein Schleier über den Bildern mit ihrer dann doch nicht so normalen Normalität.

In ihrer Serie „±100“ zeigt Magdalena Stengel Menschen hohen Alters, die ihr Leben noch selbstständig meistern. Foto: Magdalena Stengel
Zwei Blicke auf die alternde Gesellschaft

Die alternde Gesellschaft beschäftigte die Fotografinnen Magdalena Stengel (Bremen) und Natalya Reznik (Nürnberg). In ihrer Serie „±100“ erzählt Stengel von der heutigen Lebenswirklichkeit höchstaltriger Menschen, die ihren Alltag noch selbstständig meistern. Reznik zeigt in ihrer inspiriert von Renaissance-Malern fotografierten Porträtserie „Die Alte Welt“ wie ältere Frauen im Jahr 2050 ein neues Schönheitsideal verkörpern werden.

Natalya Reznik zeigt in ihrer inspiriert von Renaissance-Malern fotografierten Porträtserie „Die Alte Welt“ wie ältere Frauen im Jahr 2050 ein neues Schönheitsideal verkörpern werden. Foto: Natalya Reznik
Keine Geschichte gleicht der anderen

Keine Geschichte gleicht der anderen und doch erzählen die „True Stories“ gemeinsam etwas über den Zustand unserer heutigen Zeit. Sie verwischen Grenzen aus Faktischem und Fiktivem, suchen nach Antworten in der Vergangenheit, ebenso wie sie Fragen über die Zukunft stellen. In einer Vielfalt von fotografischen Genres und Techniken werden individuelle und subjektive Ausschnitte der Wirklichkeit präsentiert. Und eines zeigen diese Arbeiten mehr als deutlich – das Medium Fotografie kann weit mehr als Wirklichkeit abbilden, vielleicht sogar das am wenigsten.

“True Stories” auf dem Weg nach Hamburg und NRW

Nach der Ausstellung in Berlin werden die „True Stories“ vom 3. bis zum 11. April im Hamburger Projektraum Frappant und Ende Mai voraussichtlich zum Photoszene-Festival in Köln noch einmal zu sehen sein.

www.truestories-oks.de
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Autor*in: Ralf Bittner

Ralf steht lieber hinter als vor der Kamera, erkundet seine Welt gern zu Fuß und hat ein Herz für Großartiges in kleinen Locations.