Das Reisen in Gedanken

Glücklich, wer in diesen Tagen ein Susanne Hadamitzky-Original auf dem Schreibtisch zu stehen hat. Die mal auf zwei, mal auf vier Beinen durchs Bunte tänzelnden Langwesen der Lydda-Künstlerin sind Königliche der Zuversicht. Allerdings bleiben auch in Bethel die Ateliers bis zum 30. April geschlossen. Wahrlich, es sind trübe Zeiten. (Foto: Antje Doßmann)

Der virusbedingte Ausnahmezustand ist kaum ausgerufen, da meldet sich schon der Budenkoller. Was hilft? Lesen, lauschen, spielen, schauen. Und vielleicht, in Gedanken an Orte reisen, von denen grundsätzlich etwas zu lernen ist über Geduld, Gefühle und die Kraft der Kreativität. Wie das Mal-Atelier in Bethel, in dem Menschen, die mit Beeinträchtigungen leben, Kunst schaffen. Eine Würdigung aus Anlass des 50-jährigen Bestehens des Künstlerhauses Lydda.    

Räume gibt es, die sind wie Menschen. Atmend, warm, lebendig. Ihre Schönheit ist subtil, aber ohne Zweifel da, vorhanden und hat mit Geschmack nichts zu tun, nichts mit Einrichtungsgegenständen, generell mit nichts Dinglichem, das mit den Händen zu greifen wäre. Es ist eine Schönheit, die sich selbst produziert und von dem  freien Geist ausgeht, der in dem Raum schwingt, nicht herrscht. Die  ausgeht auch von seiner Seele, die hier in der Vielzahl ist und alt wie der Mensch. Solch einen Raum also vorfinden und ganz in ihn eintreten.

Ein Raum, in dem sich Sätze denken lassen wie diese und lange nicht benutzte Worte. Als hätte die Sprache wartend in den Regalen gelagert neben all den Farben und Pinseln, zwischen Mattlack und Schmirgelpapier, Läppchen und Schwämmchen, Stiften und Leinwänden und so die Jahrzehnte überdauert. Auf eine Weise geschützt vor dem Abrieb, dem allzu verschwenderischen Gebrauch, die auf die Kunst und den Menschen dahinter verweist.

Worte und Bilder

Alle Worte, die hier versammelt liegen, scheinen wie zurückgekehrt an den Ort ihrer ursprünglichen Bedeutung. Sind, was sie benennen, meinen, was sie behaupten. Manche lagern in luftiger Höhe, auf Fensterbänken, in bauchigen Bonbonièren. Andere in lichtlosen Schubladen, wieder andere hinter gut verschlossenen Schranktüren. Spielmaterial, unsichtbar natürlich, Sprache ohne Hülsen und Anführungszeichen, funkelnd und leuchtend, modrig und trüb. Belächelte Worte wie Freude und Glück und das pinke Verliebtsein eher noch als die rote Liebe selbst. Angst. Ärger. Alleinsein. Panik und Stille. Frieden und Krieg. Große Worte.

Dabei trumpft der Raum selbst nicht auf und ist auch den Eintretenden von außen wenig anzumerken von den Zuständen, in die sie hier geraten können. Nicht etwa fangen sie an, mit den Armen zu rudern oder in anderer Art den Verlust eines Gleichgewichts anzuzeigen. Nur im Inneren, im innersten Inneren, dort, wo die lebenswichtigen Dinge sich ereignen, tritt merklich eine Veränderung ein. Dort öffnet sich etwas, fällt auch etwas ab und macht ein metallenes Geräusch dabei. Die zweite Schneide des Wortschwertes vielleicht, vielleicht die Schere im Kopf, die hier gänzlich und grundsätzlich fehl am Platz ist, und wer sie beim Verlassen des Raums wieder aufnimmt, hat ihn nicht verstanden.

Synchrone Schöpfungsakte

Ein Raum, in dem Menschen ihrer Kunst nachgehen. Tag für Tag, Schritt für Schritt. Ein Raum, in dem vom Leben erzählt wird und wie es sich anfühlen kann. Ein Raum, in dem Vergangenes dem Papier anvertraut, Künftiges erträumt, ersehnt und in Ruhe auch gesponnen wird. Weil das der Anfang aller Kunst ist und am Ende ihr tiefster Sinn.

Ein Raum, in dem sich synchron Akte der Schöpfung wiederholen unter Vorzeichen, die gleich sind oder sehr verschieden. So dass es also passieren kann, dass auf einem Din-A-Blatt Papier ein filzstiftgrünes Tierwesen zur Welt kommt, mit langem Leib, hoher Krone und breitem Lachen im Gesicht, während am gegenüberliegenden Tisch Engelmenschen, Versehrte aus einem Bildhintergrund emporsteigen, der kreideweiß verfinstert ist.

Ein Raum, der beides aushält, beides aufnimmt, den Frohsinn, den Furchtsinn. Und die Gesellschaft, in der sie sich manchmal befinden, die beiden Abstandsdamen Ironie und Wohlwollen, die er vor der Tür bittet zu bleiben, wo sie hingehören. Lydda ist ein Raum, der uns an den Menschen erinnert und daran, dass Kunst ein Ja zum Leben ist. Kein Wenn. Kein Aber. Ein Ja.   

Der Text erscheint Ende März in: “Innenlicht”  – 50 Jahre Künstlerhaus Lydda. Katalog, herausgegeben von Jürgen Heinrich & Merit Böger, Mit Beiträgen von Friederike Fast, Carine Fol u.a., Kerber, Bielefeld 2019, 352 S., 45 Euro.  

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.