Ein Virus im System

Während der lokale Buchhandel trotz geschlossener Geschäfte Wege findet, die Bücher zu den Leser*innen zu bringen, reduziert Amazon seine Bestellungen bei den Verlagen - eine von vielen unerwarteten Folgen des Coronavirus. Foto: Ralf Bittner
Das Coronavirus hat nicht nur weite Teile des Kulturlebens lahmgelegt, es verändert auch die Spielregeln. Klar, Live-Veranstaltungen – seien es nun Theatervorstellungen, Konzerte, Festivals oder auch Volksfeste – fallen aus. Diverse Rettungsschirme sollen Kulturschaffende, Veranstalter oder Vereine bis zum Neustart der Kulturmaschinerie über die Runden bringen. Doch das Virus sorgt für grundlegende Veränderungen, von denen sich noch gar nicht abschätzen lässt, wie tiefgreifend und nachhaltig sie sein werden.

Vor wenigen Jahren hätte so eine Krise vielleicht das alternativlose Aus für Viele bedeutet, doch inzwischen gibt es mit dem Internet einen neuen, virtuellen Raum, der derzeit höchst unterschiedlich genutzt wird. In ihm agieren Weltkonzerne, Solokünstler*innen und Konsumierende nebeneinander. Die einfache Verlagerung analoger Inhalte ins Internet – etwa Museumssausstellungen als Videos ins Netz zu hieven – wirkt inzwischen beinahe wie ein längst überholtes Konzept: 3-D-Animationen und Kamerafahrten durch animierte oder gut abgefilmte Welten sind da schon ein Muss, Interaktivität ebenso.

Wie so oft in einer kapitalistisch geprägten Wirtschaftsordnung laufen einander entgegengesetzte Prozesse gleichzeitig ab: Konzentration von Marktmacht bei den ganz Großen und Eroberung neuer Märkte durch Kreativität von unten. Self-Publishing ist ja kein neues Phänomen, plötzlich tauchen Self-Teachers und Self-Musicans im Homeconcert auf. Streams oder Videos dienen nicht mehr vorrangig dazu, den Kontakt zu den Fans zu halten, sondern auch direkt dazu, Geld zu generieren – als Spenden- oder als Bezahlevents: Pay per Play statt Pay per View ohne zwischengeschaltetes Konzertmanagement. Eine neue, aus der Not geborene DIY-Kultur (Do It Yourself) könnte entstehen, die aber nicht alternativ zum System agiert, sondern dem Ziel dient, Geld zu verdienen.

At home, at work

Viele selbstständige Künstler*innen oder Musiklehrer*innen schaffen sich gerade notgedrungen die Möglichkeiten, mittels Kamera, Mikrophonen und modernen Kommunikationstechnologien weiter zu unterrichten oder „live“ aufzutreten. Wer denkt, dass könne auf Dauer kein Ersatz für das Live-Erlebnis sein, möge nur schauen, was die Streamingdienste für das Kino bedeuten.

Dass Musiker*innen die Technik, die sich jetzt anschaffen, zukünftig wieder aufgeben werden, scheint abwegig. Wahrscheinlicher ist, dass sie sich auch bei Konzerten ein Stück weit unabhängiger von Veranstaltungsagenturen machen werden, so wie vorher schon von Labels. Das gemeinsame Konzerterlebnis könnte vor dem Monitor entstehen – dezentral und doch vereint, Smalltalk per Chat inklusive.

Musiker*innen müssen zum Einspielen ihrer Parts nicht mehr zwingend ins Studio reisen, sondern können ihre Partien zuhause einspielen und – und das ist neu – tun das plötzlich auch. Buch- und Zeitungsverlage, Architekturbüros und viele andere Dienstleister arbeiten dezentral mit nur minimaler Präsenzbelegschaft vor Ort. Spätestens, wenn die Krise wieder Zeit zum Nachdenken lässt, dürfte sich in manchem Unternehmen nicht nur die Frage nach dem Sinn mancher Konferenz samt Anreisen und Übernachtung stellen, sondern auch die nach dem Sinn mancher Immobilie – Verlagshaus wozu? Dagegen dürfte in neu geplanten Wohnungen das Home-Office zukünftig ebenso fester Bestandteil in den Grundrissen sein, wie heute Bad, Küche und Schlafzimmer.

Parallel dazu sorgt Amazon, eben noch gehasster Vernichter von Verlag und Buchhandel, mit der Ankündigung, bis Ende April kaum noch Bücher zu kaufen und im großen Stil vorrätig zu halten, plötzlich für Weltuntergangsstimmung in der Branche. Plötzlich wird klar, dass der verteufelte Erzfeind längst unverzichtbarer Teil des Geschäftsmodells seiner Kritiker*innen ist.

Der gefürchtete Riese

Die Ankündigung Amazons, in der Krise vor allem an Waren verdienen zu wollen, die für deren Bewältigung notwendig sind, ist natürlich keine Menschenfreundlichkeit, sondern Geschäftsinteresse – ein Interesse, das auch Buchverlage antreibt. Erinnert sei an die Vorwürfe, dass einige Verlage dem Vertriebsriesen aus den USA angeblich Rabatte über den in der Branchen üblichen Satz einräumen sollen, und an die Weigerung diverser Verlage, diese Zahlen offen zu legen, um die Vorwürfe zu entkräften. (correctiv.org/faktencheck/wirtschaft-und-umwelt/2019/05/21/keine-oeffentlichen-informationen-ueber-unfaire-verlagsrabatte-fuer-amazon). Wenn die Verlage sich um ihre Absatzwege sorgen, könnten sie ja zumindest für die Dauer der Krise dem stationären Buchhandel die gleichen Rabatte einräumen, denn vielerorts reißen sich gerade die kleinen Buchhandlungen den A… auf, um die Bücher an den Mann und die Frau zu bringen.

Dass nicht alles umsetzbar ist, was technisch machbar ist, zeigte sich in diesen Tagen auch. Der Musikalienhandel-Primus Thomann hatte ausgerechnet in der Zeit, als viele Musiklehrer*innen die Basis ihres Lebensunterhaltes zu verlieren drohten, ein E-Learning-Angebot für Gitarre und Piano gestartet – sechs Monate Unterricht für einen Euro. Ein Shitstorm zwang zwar zum Rückzug. Der Vorstoß machte aber klar, wie viel Geld es auch in diesem Bereich mit Online-Kursen zu verdienen geben könnte. Eine Erkenntnis, die das Virus auch den staatlichen Musikschulen nachhaltig eingeimpft hat – auch dort wird inzwischen energisch daran gearbeitet, Möglichkeiten des E-Learnings zu schaffen.

Während vielerorts das Coronavirus einen Quantensprung für die Digitalisierung bedeutet, scheint es dagegen das befürchtete großflächige Abwandern der Kundschaft vom lokalen in den Internethandel nicht zu geben. Laut Bundesverband E-Commerce und Versandhandel (BVEH) brach auch dort der Umsatz im März um 20 Prozent ein. Gefragt ist auch online das, was im stationären Handel stark nachgefragt wird: Lebensmittel, Drogeriewaren, Medikamente und Baumarkt-Sortimente. Auch wenn die Pandemie ökonomisch in manchen Sektoren verbrannten Boden hinterlassen könnte, scheint es doch so, als könnte trotzdem neues Grün entstehen – ob aber dieselben Pflanzen austreiben, die vorher dort gediehen, scheint eher ungewiss. Die Zukunft ist noch nicht geschrieben.

Autor*in: Ralf Bittner

Ralf steht lieber hinter als vor der Kamera, erkundet seine Welt gern zu Fuß und hat ein Herz für Großartiges in kleinen Locations.