Kippbilder

Inspiriert von Träumen und philosophischen Gedankenspielen: Der isländische Autor Ragnar Helgi Ólafsson erweist sich in seinem "Handbuch des Erinnerns und Vergessens" als vielschichtiger Erzähler (Foto: Elke Engelhardt)
Nach dem viel beachteten Gedichtband „Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können“ liegt nun, dank des bewährten Übersetzerduos Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, ein weiteres Buch des in Island mehrfach ausgezeichneten Künstlers Ragnar Helgi Ólafsson in deutscher Sprache vor.

Dieses Mal stellt der Elif Verlag Ólafsson als Autor eines Handbuchs vor. In dreizehn einzigartig eigenartigen Geschichten über die Erinnerung gibt der vielseitige isländische Autor seinen Leserinnen und Lesern spielerisch Anweisungen zum Umgang mit Erinnerungen und Vergessen. Seine Geschichten treiben dabei ein intelligentes Spiel mit den vielfältigen Eigenarten des Gedächtnisses.

Einzigartig eigenartige Geschichten

Bereits die erste Geschichte besticht durch das meisterhafte Hinauszögern des Höhepunkts, der gleich zu Anfang der Geschichte angedeutet wird und somit seitenlang Spannung generiert, nur um am Ende nicht aufgelöst zu werden. Oder doch? Oder nur fast und andeutungsweise? Jedenfalls so, dass man sich etwas denken, sich aber ebenso gut irren kann.

Diese leicht überfordernde, philosophisch unterfütterte, surreal anmutende Stimmung durchzieht sämtliche der hier versammelten Erzählungen.

Eine der mehrheitlich kurzen Geschichten behandelt die fehlende Vorstellungskraft für die Realität und zieht daraus den konsequenten Schluss: „Niemand sollte der Dramaturg seines eigenen Lebens sein, so einfach ist das. Objektivität ist der entscheidende Punkt.“

Nur dass es Objektivität eben niemals geben kann. Schon gar nicht, wenn es um Erinnerungen geht.

In einer anderen Geschichte demonstriert Ólafsson, warum Erinnerungen unklar sein müssen. „Das Gedächtnis von Funes dem Jüngeren jedoch bewahrte ein Bild von der Welt, das so genau und voller Einzelheiten war, dass man es nicht von der Wirklichkeit unterscheiden konnte. Funes der Ältere besaß ein gutes Gedächtnis. Funes der Jüngere dagegen ein vollkommenes Gedächtnis; so vollkommen, dass die Wirklichkeit dazu verurteilt war, ihm permanent zu entrinnen. Erinnerungen müssen unklar sein.“

Ein lustvolles Spiel mit Wissen und Zusammenhängen

Ólafssons lustvolles Spiel mit Wissen und Zusammenhängen und den Folgen, wie das fehlende bzw. vorhandene Wissen den Blick auf das verändert, was geschieht, erzeugt Kippbilder, die von Dichtern und Figuren der Literatur belebt werden. Das „Handbuch des Erinnerns und Vergessens“ lässt sich gleichermaßen von Träumen wie von philosophischen Gedankenspielen inspirieren. So entstehen Geschichten, die sowohl als gute Unterhaltung wie auch als intellektuelles Spiel überzeugen.

Als allwissender Erzähler, Briefschreiber oder Berichterstatter des selbst Erlebten spielen Ólafssons Figuren in unterschiedlichsten Formen und Situationen immer wieder den Umgang mit den Auswirkungen um die Vielfalt der Bedeutungen von Erinnern und Vergessen durch.

Einmal wird demonstriert, was zu exakte Erinnerungen anrichten können, ein anderes Mal gelangt ein Erzähler in einem langen und schwierigen Prozess zu der zunächst scheinbar unmöglich zu treffenden Entscheidung, ob er in den Wunsch der ehemaligen Geliebten, die Briefe der gemeinsamen Zeit zu verbrennen, einwilligt oder nicht: „So, als wäre man dabei, die Zukunft zu zwingen, weiter zu existieren, indem man die Vergangenheit auslöscht (um nicht an großen Worten zu sparen).

In dieser längsten Geschichte des Handbuchs geht es vordergründig um die Frage des Verbrennens von Briefen, aber womit Ólafsson diese Entscheidung unterfüttert und auf welche Weise er das tut, ist schlicht aufsehenerregend und ein großer intellektueller Spaß. Natürlich finden sich im Handbuch auch Hinweise auf die Bedeutung der Lyrik, insbesondere gebundener Sprache für das Memorieren. Andererseits erscheint die Schrift als „Anschlag auf das menschliche Gedächtnis“. „Vielleicht ist das der Grund, warum ich Ruinen für wertvoller halte als Bauwerke, vielleicht finde ich, dass Niederlagen auf eine erstaunliche Weise schöner sind als Siege.“

Leicht unheimlicher, surrealer Unterton der Geschichten

Solche Sätze und die leicht unheimliche, surreale Ebene, die alle Geschichten auszeichnet, machen den besonderen Reiz dieses Erzählbandes aus. Dabei fängt das Übersetzer-Zweigespann Gíslason/Schiffer die „traumwandlerische Schönheit“* von Ólafssons Sprache überzeugend ein, und überträgt sie scheinbar mühelos ins Deutsche.

Es gibt schwächere Geschichten, die sich mit einer Absurdität zufrieden geben, oder damit, diese auf die Spitze zu treiben, aber auch diese Geschichten sind unterhaltsam und gut geschrieben.

Ólafsson nutzt seine vielfältigen handwerklichen Grundlagen, er arbeitet in Reykjavik als Grafikdesigner, bildender Künstler, Musiker und Verleger, und zieht alle Register seines breitgefächerten Könnens, um seine Erzählungen zu dem zu machen, was sie sind: Geschichten so vielseitig wie ihr Autor. Und wie die Formen des Erinnerns und Vergessens.

* Birgit Böllinger in Sätze und Schätze über Ólafssons Gedichtband „Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können.“

Autor*in: Elke Engelhardt

Schreibt mit nicht nachlassender Begeisterung über Bücher. Ganz selten schreibt sie selbst eins.