50 Sätze über vier Bücher II

Auch wenn kulturelle Veranstaltungen jetzt wieder stattfinden, hat die eine oder der andere möglicherweise das Lesen längst zur lieben Gewohnheit gemacht. Lohnend ist es allemal. Wir haben aus der Fülle des Angebots vier Bücher herausgefischt, und stellen sie kurz vor:
Der vergessliche Riese – David Wagner

David Wagner hat mit „Der vergessliche Riese“ einen Familienroman der besonderen Art geschrieben. Hier verbindet sich eine Erzählung über die fortschreitende Demenz des Vaters mit Zeitgeschichte, neben einer berührenden Vater-Sohn Geschichte wird aber auch eine Geschichte von Bonn und Bayreuth, von Musik und Patchwork-Familien erzählt. Nicht zuletzt ist der jüngste Roman David Wagners ein Buch, dem die Frage zugrunde liegt, was eigentlich Erinnerung ist, und was Geschichte, zumal Familien – und Lebensgeschichte.

Der Sohn wird zum Vater eines „vergesslichen Riesens“, der sich plötzlich im „Waisenhaus für alte Kinder“ wiederfindet. David Wagner versteht es meisterhaft, die unterschiedlichen Fäden zu einem dichten Ganzen zu verweben, in dem es naturgemäß auch um die Geschichte der Generationen zueinander geht. Vergessen und Erinnern erhalten hier eine Bedeutung, die ausgehend von der Vergesslichkeit des Vaters, auch geschichtliche Ereignisse und ihre Verdrängung, oder die mehr oder weniger gelungene Verarbeitung umfassen. Letztendlich ist es ein Roman über alles, was das Menschsein und unser Leben ausmacht. Über Erinnerung und Erfindung. Und wie die Liebe alles verbindet.

Christian Baron – Ein Mann seiner Klasse

Eine ganz andere Vatergeschichte erzählt Christian Baron mit „Ein Mann seiner Klasse“. Als deutsches Pendant zu Didier Eribon, Edouard Louis und Annie Ernaux, erzählt auch Baron von der Herkunft aus der Arbeiterklasse. Wie Louis fragt er gegen Ende des Buches, wer seinen Vater eigentlich umgebracht hat, denn beide Elternteile wurden nicht sehr alt. Die Mutter stirbt früh an Krebs, da ist Christian Baron gerade 12 Jahre alt, sein Bruder ist ein Jahr älter, die beiden Schwestern viel jünger.

Baron, der als Redakteur bei „der Freitag“ arbeitet, versucht die Schrecken eines durch Alkohol und Gewalt bestimmten Alltags mit der heilen Welt der Popsongs zu kontrastieren. Zu Anfang gelingt das recht gut, nutzt sich dann aber schnell ab. Der Roman leidet unter einer Anhäufung von Metaphern. Dinge, die im Journalismus funktionieren, in der Literatur aber nur bedingt. Was bleibt, ist eine erzählenswerte Geschichte, die leider nur von außen sichtbar wird.

Was Insa Wilke völlig zu Recht der diesjährigen Bachmannpreisträgerin Helga Schubert bescheinigte, nämlich Lebensgeschichte in Literatur verwandelt zu haben, gelingt hier nur ansatzweise.

Hélène Cixous – Meine Homère ist tot

„Meine Homère ist tot…“ erzählt die Odyssee, einer labyrinthischen und unvergleichlich existentiellen Reise. Die Heldin ist 103 Jahre alt, auf dem langen Weg in den Tod begleitet von ihrer Tochter, die die Hoffnung verliert und Worte findet, das Verschwinden notiert, immer wieder Mut schöpft, mit unermüdlicher Liebe der sterbenden Mutter nicht von der Seite weicht. Einer Mutter, der sie selbst Vater und Mutter wird, während sie gleichzeitig alles genau beobachtet, sich genauso wie die sterbende Mutter. 

Und so ist „Meine Homère ist tot…“ Übersetzung, Ausgrabung und Verwandlung. Metamorphose. Eine Geschichte, die alle anderen Geschichten in sich birgt. Ein Buch, das nur eine Autorin schreiben kann, die es versteht, konzentriert überzufließen. Wenn das aber gelingt, und Hélène Cixous gelingt es, entsteht etwas, das nicht weniger ist als der Mythos von der Geburt der Schrift (als Überlieferung) aus dem Verlust eines geliebten Menschen heraus. Erzählt aus weiblicher Sicht.

Sünje Lewejohann – die idiotische wucht deiner wimpern

Sünje Lewejohann erstellt in ihrem Gedichtband mit dem fulminanten Titel: „die idiotische wucht deiner wimpern“ ein Lexikon der Liebe, bei dem sie das Phänomen auf zugleich persönliche und gesellschaftlich relevante Art und Weise entfaltet. Die Gedichte erzählen eine Liebesgeschichte, die zugleich eine Geschichte der Liebe ist, an einem konkreten Beispiel, das zugleich ein Beispiel von gesellschaftlicher Relevanz ist. Weil es nicht nur von den Formen einer Beziehung erzählt, die sich im Laufe der Jahre verändern, sondern auch von den Arten, wie sich die Formen, Ausformungen und Vorstellungen von Liebe selbst im Laufe der Biografie verändern, wie sie dabei aber immer auch beeinflusst sind von gesellschaftlichen Vorstellungen und Vorbildern. Manche der hier versammelten Gedichte sind zart und probieren die unterschiedlichen Formen von Liebe an und aus, andere sind selbstbewusst und schöpfen Kraft aus einer Art Liebe, die die Welt reicher und größer macht, und die Liebenden wehrhafter.

Dabei überschreiten die Gedichte immer wieder die Grenzen der Körperlichkeit, um schließlich von ihr eingeholt zu werden. Zwischen Hingabe und Gewalt bewegt sich der poetische Kosmos dieses Gedichtbandes, selbstbewusst verletzlich von der Natur zum Körper bis zur gesellschaftlichen Sprengkraft von Gefühlen.

Autor*in: Elke Engelhardt

Schreibt mit nicht nachlassender Begeisterung über Bücher. Ganz selten schreibt sie selbst eins.