Blackbird – Schauspielauftakt einer besonderen Saison

Inszenierung „Blackbird“ von Matthias Brandt am Theater Bielefeld, Stadttheater, Premiere am 5.9.2020. Von links: Jan Hille, Georg Böhm, Carmen Witt und Susanne Schieffer. Foto: Philipp Ottendörfer

Kein Vorhang öffnet sich, vielmehr finden sich die Zuschauenden an diesem Abend unmittelbar fast ein halbes Jahrhundert in der Zeit zurück katapultiert, in die 70er Jahre und eine Schulzeit, die in grau betonierten Hallen mit grell orangen Bänken stattfand. Das Erzähltheater, zu dem Christian Schlüter (Inszenierung) und Franziska Eisele (Dramaturgie) den Bestsellerroman von Matthias Brandt gemacht haben, setzt direkt ein. Sieben identisch mit Schlaghose und Karohemd gekleidete, an den schlacksigen Bewegungen als Jugendliche erkennbare Schauspieler*innen reden vor sich hin, unterhalten sich, fallen einander ins Wort. Sieben Mal jugendliche Verwirrung und Desorientierung, sieben Mal ein von sich selbst und der Aufgabe, Ende der 70er Jahre 16 Jahre alt zu sein gebeutelter Protagonist: Motte. Das Durcheinander und die Ratlosigkeit, die manche im Publikum dabei empfinden mögen, ist durchaus gewollt. Ob der Szenenapplaus für die Ansage der Sicherheitsvorkehrungen von der Bühne und aus dem Spiel heraus ebenfalls gewollt ist, sei dahin gestellt. Denn, so wird sich im weiteren Verlauf der Inszenierung zeigen, die coronabedingten Auflagen stellen eine besondere Art von Herausforderung für das Schauspielgeschehen dar, das sich künstlerischen Anforderungen mitunter widersetzt.

Eine besondere Art von Herausforderung

Aber zurück zu Motte, für den nach einem Anruf (bewegend gespielt mitsamt der in Sprachlosigkeit gipfelnden Überforderung), nichts mehr so ist, wie es war. Bogi, sein bester Freund, hat Krebs. Das nicht zu bewältigende Chaos, in das diese Nachricht Motte stürzt, wird durch die Versiebenfachung des Protagonisten gut nachvollziehbar, wenn die Schauspielenden einander ins Wort fallen sowie Gedanken sich überlagern und die Gleichzeitigkeit der Gefühle das geordnete Nacheinander ablöst.

Auch für die Szenen im Krankenzimmer bei Bogi hat Anke Grot (Bühnenbild und Kostüme) überzeugende minimalistische Lösungen gefunden. Ein kalter, mit Neonröhren beleuchteter Raum, in der Mitte ein Krankenbett auf dem nur ein einsamer Teddy sitzt. Hier finden die quälenden Gespräche zwischen Motte und Bogi statt, die so viel verschweigen, dass kaum noch Worte möglich sind.

Seelischer Umbau in schwierigen Zeiten

Wenn in der nächsten Szene Jacqueline Schmiedebach auf dem Hollandrad mehr vorbeischwebt als fährt, ist auch das eine gelungene Umsetzung des Zusammenspiels von Komik und Tragik, die die Vorlage auszeichnet. Unterstützt wird das Atmosphärische der Inszenierung nicht zuletzt durch gezielt eingesetzte Musik und die Videos des Filmemachers Sascha Vredenburg. Überhaupt ist das Gefühlschaos Mottes zwischen surrealen Momenten und aus Verzweiflung ausbrechender Heiterkeit mit einfachen Mitteln eindrucksvoll dargestellt. Immer wieder wird das minimalistische Bühnenbild mit maximaler Fantasie genutzt. Die Allpräsens von Peinlichkeit wird so beinahe spürbar, und wenn immer wieder Umzugskartons auf der Bühne herumstehen, weil zu allem Überfluss auch noch die Scheidung von Mottes Eltern in diese ohnehin nicht ereignisarme Zeit fällt, wird plötzlich deutlich, wie passend, beinahe metaphorisch, diese scheidungsbedingte Umzugsgeschichte für den seelischen Umbau des jungen Mannes ist.

Auf Aufbruch folgt Absturz

Nachdem Bogi für einige Tage aus dem Krankenhaus entlassen wird, besuchen er und Motte Rockworld den Plattenladen, dessen Eröffnung lang ersehnt wurde. Eine Szene, die durch den Aufbruch in eine neue Welt auf besondere Weise vom Zusammenspiel von minimalistischer Bühne und Videokunst profitiert.

Inszenierung „Blackbird“ von Matthias Brandt am Theater Bielefeld, Stadttheater, Premiere am 5.9.2020. Von links: Lukas Grasser, Jan Hille. Foto: Philipp Ottendörfer

Doch nach diesem Aufbruch folgt der Absturz. Ein harter Schnitt, denn übergangslos wird nun das Sterben Bogis monologisch vorgetragen. Eine Szene karg und von Schweigen durchsetzt. Die plötzlich fast leere Bühne versinnbildlicht eindrucksvoll, wie Motte ganz auf sich zurückgeworfen ist. Auf die Leere, den Verlust und die Flasche Amselfelder, die er noch gemeinsam mit Bogi für das geplante erste Besäufnis besorgt hatte. Und die nun auf dem 10 Meter Brett im Freibad einen tragisch komischen Auftritt erfährt, bevor Motte – videotechnisch unterstützt – springt und in einem großen, mutig inszenierten Schweigen direkt auf der Beerdigung von Bogi landet.

Alles könnte anders sein

Man merkt dieser Uraufführung die besonderen Anforderungen der Zeit an, aber auch den kreativen und spielerischen Umgang damit, und obwohl sich die Schauspieler allen dramaturgischen Anforderungen zum Trotz niemals zu nahe kommen dürfen, vermittelt die Inszenierung doch eine besondere Art der Auferstehung des Protagonisten, und somit eine Dimension, die über den Roman hinaus geht. Die Zurücknahme der Schauspieler*innen (Georg Böhm, Lukas Graser, Jan Hille, Tom Scherer, Susanne Schieffer, Alexander Stürmer, Carmen Witt) die allesamt ihr Bestes gaben, um einer Person ihre vielfältigen Ausprägungen zu geben, ist nicht nur eine künstlerische Leistung, sondern auch ein Zeichen dafür, wie über das Theatergeschehen hinaus, ein kreativer und konstruktiver Umgang mit dem noch alles beherrschenden Virus möglich ist.

Das ist einen herzlichen Applaus wert, der fast so kraftvoll klingt, als wären – wie früher – alle Plätze besetzt. Aber zum Schluss sitzt wieder der Teddy Bogis allein auf der Bank. Als Platzhalter für den verlorenen Freund und die verlorene Kindheit.

Und vielleicht auch ein wenig für die verlorene Leichtigkeit, mit der noch vor einigen Monaten gespielt werden konnte. Ein Sinnbild für ein ebenso nostalgisches wie sehnsüchtiges: „Es könnte alles anders sein.“

Autor*in: Elke Engelhardt

Schreibt mit nicht nachlassender Begeisterung über Bücher. Ganz selten schreibt sie selbst eins.