Das Perpetuum Mobile der Literatur

Wenn hierzulande von norwegischer Literatur die Rede ist, fallen mit zuverlässiger Beständigkeit die Namen Knausgard und Espedal, und manchmal wird auch noch Jon Fosse erwähnt.

Ein ganz großer Norweger aber ist bei uns weitestgehend unbekannt, obwohl Ina Kronenberger als Übersetzerin seit vielen Jahren gemeinsam mit dem Dörlemann Verlag Dag Solstads Werk auch in deutscher Sprache zugänglich macht. Vor kurzem ist dort der in Norwegen bereits 2002 veröffentlichte Roman “[16.7.41]” erschienen.

Der große Unbekannte Norwegens

Während Solstad seine schriftstellerische Karriere mit gesellschaftskritischen Romanen begann, hat ihn die fehlende Hoffnung auf sozialpolitische Veränderung dazu gebracht, sich vom Gesamtgesellschaftlichen auf die kleinsten Teile der Gesellschaft zu besinnen. Seitdem betreibt Solstad eine radikale Wahrheitssuche. So auch in diesem Roman mit dem schlichten Titel 16.7.41, in dem die Leser zunächst gemeinsam mit dem Autor Wolkenformationen beobachten dürfen, die unverhofft zu einer Begegnung mit dem früh verstorbenen Vater führen.

Die Spannung in Solstadts Roman entfaltet sich zwischen einem unspektakulärem Alltag und mystischer Transzendenz. Die Reise des Protagonisten, der gleichzeitig Solstad selbst zu sein scheint, wird zu einer Erkundung unterschiedlicher Lebensabschnitte. Dabei dient der erste Besuch in Berlin als Ausgangspunkt der Selbsterkundung.

Zwischen unspektakulärem Alltag und mystischer Transzendenz

„Wie man sieht“, kommentiert Solstad sich oder seinen Erzähler in Fußnoten, „habe ich versucht, einen Einstieg hinzubekommen, der die Auflösung der Identität in der Begegnung mit der Zeit einbezieht. Es ist also eine Art düsteres Spiel, mit dem ich meinen neuen Roman ursprünglich beginnen wollte.“ Wobei dieses „ich“, […] etwas anderes, etwas das sich auflöst [ist], wenn man anfängt, es näher zu untersuchen, z.B. in einer Art Spiel mit Wort und Zeit, doch auch in dieser Auflösung bin immer ich derjenige, der das hier schreibt. Das scheint mich sehr zu beschäftigen, da ich darauf poche, meinen neuen Roman mit diesem Spiel zu beginnen, während ich nun also fliegen will.“

Identität ist bei Solstad scheinbar ebenso fluide und flüchtig, wie die Wolkenformationen, die am Fenster des Flugzeugs vorbeiziehen.

Überhaupt ist es erstaunlich, wie nicht nur mühelos, sondern zutiefst folgerichtig sich scheinbar vollkommen unverbundene Gedanken, Themen und Beobachtungen bei Solstad zu einem Ganzen fügen, in dem kein Teil verzichtbar ist.

Von den Wolken mäandert der Roman nach Berlin mit seiner langen, wechselvollen Geschichte. Solstad betreibt eine ständige Grundlagenforschung, die manchmal, wenn es seitenlang um das Straßennetz Berlins geht, auch ermüdend sein kann. Aber nach dem Treiben durch die Stadt steigt der Roman erneut in ein Flugzeug, um nach Norwegen zurück zu fliegen, denn dort soll Solstad einen Vortrag über Autorenmacht halten, wobei er sich aber hauptsächlich mit der Frage, was Qualität ist, auseinandersetzt. Auch hier kommt Solstad mühelos vom Allgemeinen ins Persönliche und spürt der eigenen Qualität sowie den eigenen Qualitätsansprüchen nach.

Verzweigte Geschichten führen zurück zum Ursprung

„Die Geschichte oder die Geschichten halten also den Roman zusammen. Das kann ich akzeptieren, zugleich ist es nicht das, was mich an einem Roman, der mich gepackt hat, am meisten interessiert. Mein Verhältnis zu Geschichten ist ein eher gleichgültiges, fast zerstreutes. […] Aber die Geschichte ist der Leib des Romans,“ formuliert Solstad die Anatomie, der er die eigene Art, Geschichten zu erzählen entgegen setzt: „Ich erzähle also Geschichten, die nicht nacherzählt werden können. Ich, der ich keine Geschichten erzählen kann, schreibe trotzdem Geschichten nieder, und diese lassen sich nicht nacherzählen, ohne verfälscht zu werden.“

Es sind Geschichten, die verzweigt und doch strukturiert rückwärts verlaufen, von einem 60jährigen Schriftsteller auf der Höhe seines Erfolges zurück zum Schulkind, zum Jungen, der viel zu früh seinen Vater verliert.

Auf diesen verschachtelten Wegen erschließt Dag Solstads Neuland.

„Geschrieben habe ich über anderes, oft Dinge, über die ich wenig weiß, zumindest bevor ich mit dem Schreiben begonnen habe.“

Und in diesem Buch – in diese Richtung ließe sich auch sein Titel interpretieren – ist das die Frage des Ursprungs, die Frage, wie Dag Solstad zu dem geworden ist, der er kurz vor seinem 60. Geburtstag ist.

Mit der Suche nach dem Jubiläumstreffen seiner Abschlussklasse im Geburtsort Sandefjordt wird der Roman zunehmend surreal. Die Auflistung einer Vielzahl von fehlgeschlagenen Versuchen, zu der feiernden Gesellschaft dazuzustoßen, liest sich ungewohnt aktionsreich und verführt dazu, beim Lesen unwillkürlich ins Interpretieren und Analysieren zu verfallen. Sind all die misslingenden Versuche ein Bild für die Unmöglichkeit, die Erinnerung zu erreichen, sie wieder zu beleben? Bis ein Punkt entdeckt wird, hier der „Balkon der Schande“, der die Tür in die Vergangenheit öffnet. Nicht die Vergangenheit allerdings, zu der man verzweifelt Zutritt gesucht hatte, sondern einen bestimmten Ort dort, der sich scheinbar selbst zur Öffnung entschließt.

Einzigartige magische Kraft des Erzählens

Auf fast magische Art und Weise sind die Bilder, Szenen und Motive miteinander verbunden, vom Flugzeug und der Erscheinung in den Wolken über bodenständige Geografie zu den Fallschirmen, die vom Elternhaus aus in den Himmel schweben. Und auch die Frage nach Qualität und Erfolg, Macht und Erzählen strukturieren den Roman unterschwellig, und auf wirklich bemerkenswerte Weise. Ebenso wie all die blinden, unauffindbaren Stellen. Die Art, wie Solstad diese Punkte, die ihn interessieren beinahe beiläufig verknüpft, entfaltet eine magische Kraft, die einzigartig ist.

16.7.41 ist ein Buch über die Berufung zu bezaubern. Einer Berufung, die der Sohn vom Vater geerbt hat. Und so ist dieser Roman vielleicht nicht nur das Vermächtnis des Vaters, sondern die Vollendung des Perpetuum Mobiles, an dessen Verwirklichung er in seinen letzten Monaten gearbeitet hat.

„Ich muss es einfach zugeben: Seit Vaters Tod war ich nicht mehr ich selbst. Ich war der Autor Dag Solstad. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und die habe ich noch nicht vollendet. Ich denke nur an meine Zukunft.“

Was Solstad hier schreibt, ist das Perpetuum Mobile der Erinnerung. Das gleichzeitig der unerschöpfliche Stoff ist, aus dem Literatur entsteht.

Und so endet dieser Roman, der nicht zuletzt von der Geburt des Autors Dag Solstad erzählt, nicht, sondern geht weiter in die Zukunft des Schreibens, in das Perpetuum Mobile der Literatur.

(Foto: Wikipedia.de)

Autor*in: Elke Engelhardt

Schreibt mit nicht nachlassender Begeisterung über Bücher. Ganz selten schreibt sie selbst eins.

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