Mythos Monster, Mythos Mensch

Inzenierung „Frankenstein“ von Mary Shelley am Theater Bielefeld, Theater am Alten Markt, TAM. Regie: Tuschy/ Suske (Hajo Tuschy und Jacob Suske), Bühne und Kostüme: Maria Strauch, Musik: Jakob Suske, Dramaturgie: Elisa Hempel, Von links nach rechts: Brit Dehler, Janis Kuhnt, Simon Heinle, Leona Grundig (Foto: Phlipp Ottendörfer)

Horror-Klassiker mit zeitloser Message: Mary Shelleys “Frankenstein” funktioniert als wissenschafts- und sozialkritische Parabel auch heute noch auf der Bühne. Den Beweis dafür lieferte das Bielefelder Theater am Alten Markt, wo die legendäre Schauergeschichte in einer Bühnenfassung von Tuschy/Suske und Elisa Hempel am gestrigen Abend Online-Premiere feierte. Das überragende Spiel von Brit Dehler, Leona Grundig, Simon Heinle und Janis Kuhnt sowie die raffiniert eingesetzte Bühnentechnik sorgten dafür, dass der Funken in den stärksten Momenten der Inszenierung auf das vor dem heimischen Bildschirm sitzende Publikum überspringen konnte.

Zu diesen Momenten zählte eine Szene relativ am Anfang der gestreamten Premiere, als das sich wild gebärdende Ensemble-Quartett das grausame Schicksal des von Zeus an einen Kaukasusfelsen gefesselten Prometheus nachstellte und dadurch einen ersten Vorgeschmack lieferte auf den Horror, um den es auch im Stück gehen würde: Ein durch und durch menschlicher Horror, der von Ausgrenzung und Vernachlässigung, normativem Anpassungsdruck und eruptiver Gewalt erzählte, gezeugt aus grenzenloser Überheblichkeit, emotionaler Dummheit und einer Sorte Einsamkeit, gegen die kein Kraut gewachsen scheint.

“Das Leben ist ein Kreislauf”, sagt Elisabeth (Brit Dehler). “Ich will den Tod überwinden.”, antwortet Frankenstein (Simon Heinle). Von da an gehen die Dinge gründlich schief.
(Foto: Philipp Ottendörfer)

Welche Dämonen die genannte seelisch-geistige Gemengelage zuverlässig wachruft, verrieten in dieser antiken Familienaufstellung des Menschen die beiden Frauen: Brit Dehler als kreischender flügelschlagender Adler, Leona Grundig als wollüstige Pandora, die mit Irrglanz in den Augen und blutrot verschmierten Lippen Tod und Schrecken in die Welt sät, um in des Göttervaters Namen zu strafen für das aus dem Olymp entwendete Feuer und das Gestalten menschlicher Lebewesen autarker Natur, wie der Titanensohn es tat.

Simon Heinle verkörperte als Viktor Frankenstein den “Moderne(n) Prometheus”, wie Shelleys Roman im Untertitel heißt. Das Unheil, das er anrichtet, indem er besessen seinem von alchemistischem Gedankengut gespeisten Mantra folgt: “Ich will den Tod überwinden. Ich will die Krankheiten besiegen. Ich will Unsterblichkeit” kann er ab einem bestimmten Punkt nicht mehr aufhalten. So wie ihn selbst niemand aufzuhalten vermag. Weder die geliebte Cousine Elisabeth noch die von Janis Kuhnt verkörperten Figuren des Vaters oder des treuen Freundes Henry Clerval. So dass sie am Ende alle zu den Opfern des begabten, aber jegliches Maß verlierenden Wissenschaftlers zählen werden, der das Monster, das ihn letztendlich tötet, selbst erschuf.

Simon Heinle (links) als Frankenstein, Janis Kuhnt (rechts) als sein bester Freund Henry Clermont. In der Mitte Brit Dehler, die dem wahnhaften Treiben des Geliebten so wenig Einhalt gebieten kann wie der Freund. Die großartigen Bühneneffekte gingen wie die Kostüme auf das Konto von Maria Strauch. (Foto: Philipp Ottendörfer)

“Welch seltsames Ding ist doch das Wissen”, heißt es in Mary Shelleys makabrer Dystopie dazu am Ende. Heute darf man im Angesicht der Frankensteinschen Hybris, Gier und Kurzsicht ruhig ausrufen: “Wie blöd kann man eigentlich sein?!” Und nicht zufällig sind es Dehler und Grundig, die Heinle, der sich als sterbender und restlos gescheiterter Menschenproduzent mit dem Satz: “Und dennoch, ich bereue nichts!” aus dem Diesseits schleichen will, fragen, ob er noch ganz richtig im Kopf sei. Dieses kalkulierte Heraustreten aus den festgelegten Rollen, das sich auch als feministisches Statement deuten lässt, gehörte zu den wenigen eigenen Akzenten in einer zwar mit ungewöhnlichen Bühnenmitteln arbeitenden, aber sich eng an Shelleys Romanvorlage haltenden Inszenierung; es hob sich dadurch um so deutlicher ab.

Ebenso die Stilmittel, die sich als Sinnbilder für die Künstlichkeit des virtuellen Theatererlebens verstehen ließen. Die kleine Guckkastenbühne als Element des Bühnenbildes mit ihren Bergen und Seen, Meereswogen und Kathedralentürmen, die als handliche Kulissen und Soffitten sichtbar von den Schauspielenden selbst seitlich oder von oben in diese Bühne auf der Bühne eingeschoben und an die Wand projiziert wurden. Oder die künstlichen Kerzen, die erst mit einem Feuerzeug schein-entflammt und dann händisch angeschraubt wurden. Ironisches Spiel mit den Sphären Schein und Wirklichkeit und für das Kleeblatt auf der Bühne, so schien es, auch ein kleines Zusatz-Vergnügen an diesem totenstillen Premierenabend.

Wenn Kuhnt und Heinle in die Häute von Vater und Sohn Frankenstein schlüpften, bekam der eine etwas Schlingensiefhaftes, der andere wurde zum Bewohner von Mittelerde. Und Leona Grundig als Magd Justine? Fräulein Menke in den hohen Bergen, nur noch etwas burlesker.
(Foto: Philipp Ottendörfer)

Die von schräger Musik (Jacob Suske und Ensemble) begleitete und mit neo-gotischen Lack und Leder-Kostümen (Maria Strauch) ausstaffierte Inszenierung des Regie-Tandems Hajo Tuschy und Jacob Suske regte nicht nur zum Nachdenken über den Faustischen Menschen an, sondern füllte durch ihre Werktreue auch eine Wissenslücke, die viele haben werden. Denn mit Bram Stokers “Dracula” teilt Mary Shelleys “Frankenstein” das Schicksal, weltberühmt, aber wenig wirklich gelesen zu sein.

Nun wissen wir (wieder), dass in diesem romantischen Klassiker die Lebensgeschichte Victor Frankensteins in Briefen und Tagebuchaufzeichnungen eines Nordpolforschers namens Robert Walton enthüllt wurden. 1816, als der Roman, der so berühmt werden sollte, entstand, war Mary Shelley erst 20 Jahre alt. Es war das Jahr, das als “Jahr ohne Sommer” in die Geschichte eingehen sollte. Im Jahr zuvor war der indonesische Vulkan Tandora ausgebrochen. Shelley und ihr Lebensgefährte weilten mit Freunden bei niemand Geringerem als Lord Byron am Genfer See. Es regnete. Und regnete. Die Männer hatten einen Dichterwettstreit ausgerufen. Wer von ihnen würde wohl die unheimlichste Geschichte erzählen? Eines Nachts erschien Mary Shelley ein menschliches Monster im Traum. Der Rest ist (Schauer)-Geschichte.

Die nächsten Streaming-Termine sind: Mittwoch, 26.5. und Freitag, 28.5.2021 ab 18 Uhr.

Karten unter www.theater-bielefeld.de

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.