Welche Lieder singt die Stadt? Welche Geschichten erzählen Orte? Und warum ist es manchmal wichtig, die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen? Bei der Neuauflage ihres Stadt-Rund-Klang-Projektes begaben sich Andreas Gummersbach und Andreas Kaling auf den Johannisberg. In Begleitung der beiden Saxophonisten, die seit 26 Jahren als “Leptophonics” auftreten, war dieses Mal der Theaterlaborschaupieler Michael Grunert.
An acht ausgewählten Punkten legte das Trio sein Ohr und die Instrumente dicht ans Gestein, lauschte und gab Auskunft über die abgehörte Atmung dieses abwechselnd gehegten und gepflegten, dann wieder verwünschten und verwucherten Stücks grüner Lunge der Stadt. Und natürlich rasselte es da oft und waren beim sorgfältigen Abklopfen dumpfe Geräusche zu vernehmen. Denn die vis à vis der Sparrenburg gelegene Anhöhe hat es zeitgeschichtlich in sich: Holzlieferant und Ziegenwiese in der Vorzeit, die wir grau zu nennen pflegen. Erst in Kirchen-, dann in Adels- zuletzt in Bürgerhand. Eine Genese, wie sie typisch ist für die Stadt, typisch für das Land, und das ambivalente Gefühl, das sich beim Erklimmen dieses Berges manches Mal schon eingestellt hat, erfuhr durch die künstlerische Auseinandersetzung eine wertvolle Erhellung.

Denn obwohl einiges, was Michael Grunert während der anderthalbstündigen Tour über den Johannisberg als Ort unterschiedlicher politischer und kultureller Geschehnisse zu erzählen wusste, den meisten zumindest in den Grundzügen bekannt war, ergab dieser Stadt-Rund-Klang durch die eigenen Akzente, die er setzte, ein neues Bild des vertrauten Geländes. Die durch Musik und gesprochene Worte beleuchteten zeitgeschichtlichen Hintergründe werden in Zukunft aufscheinen beim Spaziergang über den Berg, und das ist gut so.
Besonders wohltuend an der mäandernden Frischluft-Performance waren ihrer freier Geist und gelassener Humor. Die sich langsam in die Höhe schraubende Runde über den Berg führte vom rekonstruierten Winzer-Garten über das historische Kontrollhäuschen, das einzig aus jenen langen Jahren erhalten geblieben ist, da sich auf dem Johannisberg Gutbürgerlichkeit mit Schützenvereinsmeierei gepaart hatte, bis zur Gedenkfläche, die an das Schicksal vorwiegend aus Polen und der Ukraine stammender Zwangsarbeiterinnen gemahnte.

Ja, es sind sehr unterschiedliche Gefühle, die dieser Bielefelder Berg schenkt. Anerkennung für zivilbürgerliches Engagement. Unbehagen angesichts eines bestimmten Korpsgeistes, der so anfällig ist für Ausgrenzung und Überheblichkeit. Blankes Entsetzen über die Brutalität der faschistischen Diktatur.
Dass auf dem Johannisberg berühmte Sangesfeste stattgefunden haben, es handfeste Auseinandersetzungen zwischen Linken und Rechten gegeben hat, und der Ort darüber hinaus mit einer gewissen Zwangsläufigkeit immer auch Schauplatz widerständiger Gegenkultur gewesen ist – auch daran erinnerte dieser Stad-Rund-Klang mit seiner Mischung aus klug ausgewählten Texten und musikalischen Arrangements, die im Zusammenspiel mit Abendlicht und Vogelsang eine poetische Note in die geschichtspolitische Aufklärung brachten. Wunderbar! Wiederholung erwünscht!
