Ein Ort mit zweifelhaftem Charme

"Bielefelder Flutlicht": ein unbekannter Selbstdarsteller genießt den Kesselbrink-Abend. Im Hintergrund die Ausstellungsräume. Symbolfoto: Rainer Schmidt

Um die Aufenthaltsqualität auf dem umgestalteten Bielefelder Kesselbrink brandet eine heftige Kontroverse. Ein dokumentarisches Theaterstück bemüht sich um Aufklärung.

Es ist Freitag, halb 7 Uhr. Die Büros sind dicht, erste Geschäfte in der City haben geschlossen. Ein Polizeiwagen schleicht mit offenen Scheiben auf Patrouille an den gut bevölkerten Betonbänken entlang. Ein Stück weiter gibt es ein „Mahnmal – dieses soll auf Opfer rassistisch motivierter Straftaten aufmerksam machen, und daneben auch, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe oft unter solcher Präsenz mit dem weidlich ausgeübten Recht zur Personenkontrolle litten.

Man hätte es als Lifestyle-Protest, als Hipster-Aufreger abtun können, was da im Fahrwasser der Black Lives Matter-Bewegung im Jahr 2020 hochkochte. Doch irgendwie hatte die Kontroverse um Bewegungsfreiheit auf der einen und Sicherheitsbedürfnis auf der anderen Seite in der Öffentlichkeit einen Nerv getroffen. Es ging immer weiter: Klagen über Lärm, Schmutz, Ausgrenzung, Trunkenheit, illegale Geschäfte, Zerstörung, Schlaflosigkeit… Zwischenzeitlich wurde der Kesselbrink in einschlägigen Medien als „No Go-Area“ tituliert, von diesen und der Politik verbal auf Polizeiverantwortliche eingedroschen. Die einen wussten immer alles besser als die anderen.

Einen Beitrag zur Verständigung leistet jetzt ein Theaterprojekt des Dokumentarfilm-Regisseurs Sascha Schmidt, der in Hannover bereits ähnliche Aufführungen geschaffen hat und der Bielefelder Produzentin Laura Parker, die auch als Schauspielerin in Aktion tritt.

Theatral aufbereitete Interviews mit realen Platzbesuchern

Das Stück „Auf dem Kesselbrink“, einzuordnen ins Genre „Locationprojekte“ oder „theatrale Spaziergänge“, lässt teilhaben am Leben auf einem großstädtischen Platz und gibt Einblicke ins Leben der Menschen, die sich viel hier aufhalten, was sie antreibt und was sie ausbremst. Und warum sich nicht alles so hinbiegen lässt, wie Hobbypädagogen und Normalitätsprediger es zuweilen darstellen.

Persönliche Schicksale sind gemixt mit Informationen über die Geschichte des Platzes. Noch vor wenigen Jahren war es eine Steinwüste mit verfallenden Ladenpavillons und einem Busbahnhof, von wo man nach Minsk, aber nicht nach Hiddenhausen fahren konnte. Vor einem Café, wo seinerzeit eine Tiefgarageneinfahrt allen Raum einnahm, lehnt einer und erzählt, Seit der Lehre 1988 hat er sein ganzes Berufsleben am Kesselbrink verbracht. Der Bankangestellte wird verkörpert vom Schauspieler Thomas Tucht.

Das Publikum hat während einer Stunde die freie Wahl zwischen fünf Stationen, die Erzählungen bekommen sie wie einen Audio Guide per Funk in den Kopfhörer. Die Schauspieler*innen sprechen lippensynchron. Man muss schon ein wenig nach ihnen suchen, das macht einen Teil des Reizes aus, schließlich wollen sie optisch in die Klientel integriert sein. Schließlich wurden ihre Texte destilliert aus Interviews mit realen Personen, welche Schmidt und Parker führten.

Ein wenig künstlich wirkt es schon in dieser Darreichungsform eines geglätteten Vortrags, mit der zusätzlichen Distanz über die Funkstrecke, was die Akteure aber bewusst in Kauf genommen haben. Wie sehr man sich assimilieren möchte oder kann – es ist eine Gratwanderung. Terrence Xavier Johnson gibt auf dem Rasen einen jungen Eritreer, den es schon zurück nach Afrika verschlug, um zu erkennen, dass seine Heimat Bielefeld ist. Nun wartet er auf seine Genossen und erzählt vom Krieg in Äthiopien und Somalia. Seinen ursprünglich gedachten Auftrittsort auf der Bank gegenüber Muttis Bierstube habe man verwerfen müssen. Tatsächlich gibt es unter dort Sitzenden so was wie ein Revierverhalten, wer nicht dazugehört wird angesprochen oder den an Platzen wie dem Kesselbrink üblichen Verkaufsangeboten ausgesetzt. Mittlerweile tritt Dämmerung ein, Lampen flammen mit nahezu Flutlichtstärke auf.

Eine kleine Familie der vom Leben gebeutelten

An der anderen Seite des Platzes sitzt einer der Schauspieler nah am Geschehen. Sein „Olli“ verarbeitet seine privaten Katastrophen beim Freiluftbier mit Leidensgenossen, träumt sich in eine Vergangenheit auf See.
Thomas Krutmann lebt und arbeitet in Köln Mülheim. Der erfahrene Location-Schauspieler erzählt, dass er dort weit gefährlichere Milieus kenne. Seine Umgebenden auf den „Kessel“ nehme er hauptsächlich als Immigranten wahr, die den Feierabend als Angestellte von Geschäften gesellig einläuten., und wenn es doch zu handfesten Konflikten komme, sei es eine „selbstregulierende“ Szene. „Es ist ein Quartiersphänomen. Leute aus den Außenbezirken kommen hier eher nicht hin, nehmen es als exotisch wahr“. Diese würden die negative Berichterstattung aber umso bereitwilliger schlucken.

Nebenbei ist der Platz mit der größten Skateanlage Europas eine Attraktion für Bielefelder und Angereiste, welche Michaela Finkbeiner dem Publikum nahebringt.

Die junge rumänischstämmige Skaterin (Michaela Finkbeiner) hat sich eine Auszeit von den Rampen und Pipes auf dem Kesselbrink genommen.

Weitere Aufführungen am 24. und 25.09., jeweils um 19 Uhr

Treffpunkt ist vor dem Bistro Keimzeit im grünen Würfel.

Rainer Schmidt

Autor*in: Rainer Schmidt

"Wenn man sich schon Illusionen macht, dann aber auch richtig. Es muss stimmen, wenns auch nur von kurzer Dauer ist." – Django