40 Orte in 7 Stunden – kaum jemand wird bei den Bielefelder Nachtansichten über die volle Runde gegangen sein. Aber die beliebte Veranstaltung, die durch die Ateliers, Kirchen, Theater, Museen und Galerien der Stadt führt, bot in diesem Jahr eine glänzende Gelegenheit für eine Art Wiedereingliederung ins kulturelle Leben: Wie viel Kunst schaffen wir eigentlich noch en suite nach dem unfreiwilligen Sabbatical? Hat unser Reiz-Reaktions-Schema womöglich gelitten unter dem monatelangen Anstarren der eigenen vier Wände?
Wer das im Selbstversuch herausfinden wollte, war, wie gesagt, bei den Nachtansichten bestens aufgehoben und sicherlich nicht schlecht beraten, mit einer eher kleinen Runde die Sache behutsam angehen zu lassen. Schließlich müssen sich unsere Augen an das Licht erst wieder gewöhnen. Eine gewisse Zurückhaltung vor der funkelnden Herausforderung dieser Ausdauerveranstaltung mit ihren vielen einzelnen Stationen und den unvermeidlichen Bewegungs- und Begegnungsströmen hatte sich schon im Vorfeld bemerkbar gemacht. Mit rund 1000 verkauften Tickets lag die Zahl deutlich unter den Vorcoronajahren. Es gingen jedoch am Abend, so der Eindruck, noch viele Karten direkt bei den Veranstaltenden über den Tisch. Und dann war überhaupt schnell wieder alles (fast) beim Alten. Unter den Teilnehmenden wie üblich Spontis und Realos. Die einen ließen sich treiben, die anderen folgten einem vorher ausgearbeiteten Plan. Manch einen interessierte nur das Theater, andere nur die Ateliers. Die einen wollten ins Museum, die anderen zum Konzert in die Kirche.
Hurra, wir leben noch!
So oder so kamen alle auf ihre Kosten. Denn geboten wurde tatsächlich wieder viel Kultur für wenig Geld. Und egal ob es nun ein gemütliches Mäandern von Kulturort zu Kulturort war oder ein schnelles Auf- und wieder Abtauchen in der Szene – die überall aufgebauten Inseln des Innehaltens wurden immer gerne in Anspruch genommen. Gute Gespräche bei Kaffee oder Wein. Wiedersehensgespräche. Rekonvaleszenzgespräche. Gespräche unter Kunsthungrigen. Überall ein großes Hallo, und es war schon interessant zu erleben, wie vielen Menschen wir eigentlich nur begegnen, weil wir die Liebe zur Kultur teilen. In diesem Jahr grüßte man sich eine Spur wärmer vielleicht als vorher, ehrlicher interessiert: “Erzählen Sie mal, wie geht es Ihnen?” Die Krise war da, ganz klar, und jetzt schien sie überstanden. Diese Krise.
Einher mit der Hurrafreude des Nochlebens ging jedoch auch eine schneller einsetzende Erschöpfung angesichts der Fülle. Zumal sich mit dem Einbrechen der Nacht in der Bielefelder Innenstadt lautstark eine allgemeine Lust zu feiern bemerkbar machte. Ohne begleitenden Kunst- und Kulturgenuss, ausgenommen der Musik. Wogegen nichts zu sagen ist. Wirklich nicht. Selbst wenn es sich um bayrische Oktoberfest-Hits handelt wie an diesem Samstag in Bielefeld.
Kleine Spurensuche des Menschseins
In den Kunstateliers zeigte sich die Stadt aber von ihrer anderen Seite. Nachdenklich, sensibel, still. Auf der Suche nach Spuren, Zeugnis gebend vom Menschen und seinem Wirken in der Welt. Einer von vielen möglichen Bögen, die sich spannen ließen, reichte von Stephanie Ahns und Olaf Hülsmanns archaisch anmutenden Objekten im Atelier “Chaco” in der Weststraße zunächst einmal zu Christine Halms modern bearbeitetem “Sappho”-Porträt, das nur wenige hundert Meter weiter entfernt in der Galerie des Künstlerinnenforums hing.

Dazu gesellten sich spirituelle, ostasiatische Einflüsse und west-ost-dialogische Spannungsfelder, die sich aus dem Zusammentreffen der Arbeiten Aatifis und Mark Tobeys im Atelier des Kalligraphie-Meisters in der Ravensberger Straße ergaben.

In einer Art Parallelverschiebung dann die nah an den Erdursprung herangehenden Lithographien Mona Schäfers und Uwe Scherers figürliche Malereien in der Produzentengalerie/Rohrteichstraße. Auch sie im Gespräch miteinander, unterschiedlich in der Gestaltung, übereinstimmend in der Wahrnehmung: Diesseits von Eden häufen sich Fehlentwicklungen in der kulturellen Vervollkommnung des Menschen. Furchtbare Fehlentwicklungen.

In der Skulpturenwelt des Holzkünstlers Klaus Seliger kommt der Mensch dagegen erst gar nicht vor, und es fühlte sich dementsprechend entlastend an, seine im sixto-Frisurensalon ausgestellten kopulierenden Hasen und gelassen darüberstehenden Eulen en passant in Augenschein zu nehmen. Zumal der Bielefelder Saxophonist Andreas Kaling für wunderbare musikalische Einlagen sorgte. Helmut Bornefelds “Todesblumen” und “Der Mond ist aufgegangen” von Matthias Claudius griffen in Kalings Bearbeitung die Stimmung der Nacht tröstlich auf, während die Vertonung von Ernst Jandls “fünfter sein” eher die heiter-hintergründigen Töne traf. Wenngleich wir uns auch bei Jandl nie sicher sein können, wie ernst er das scheinbar Vergnügte am Ende dann vielleicht doch meinte. In Andreas Kalings Interpretation wurde Jandls Abgründigkeit zumindest angespielt, und nicht nur aus diesem Grund war sein Auftritt bei den Nachtansichten eine schöne, sinnfällige Ergänzung zu den Werken Klaus Seligers.

Während im nur einen Hasensprung entfernten Art-Center Christiane Neumann den exemplarisch für die Nachtansichten gespannten Bogen mit eigenwilligen Bild-Text-Kompositionen abschloss. “Aber kein Traum ist nur ein Traum”, sagte die Künstlerin, angesprochen auf die mögliche Bedeutungsebene ihrer Werke, Arthur Schnitzler zitierend. Das gilt wohl. Mit allen Implikationen, die der an der menschlichen Psyche interessierte Autor beim Schreiben im Sinn hatte. Denn alle Kunst will Selbsterkenntnis. Und kein Mensch ist nur ein Mensch.

Bi by night








