Viel Zu Hören

Ja es ist kompliziert: Das Ensemble Contemporary Insights tobt bei „Haus für Tuba“ los, dann passiert irgendetwas anderes, der Rahmen steht für den Übergang in einen anderen Raum

Dieses Ereignis hat seinen Schatten lange vorausgeworfen: Der Meller Komponist Willem Schulz, durch spektakuläre Aufführungen, Lehrtätigkeit und Wirken im Vorstand der Cooperativa Neue Musik seit Jahrzehnten fest verwurzelt im kulturellen Leben der Stadt Bielefeld, feierte im letzten Jahr seinen 70sten Geburtstag. Zu diesem Anlass sollte auch das breite Publikum etwas geboten bekommen, in der Rudolf-Oetker-Halle.

Gemäß der Programmatik eines Querschnitts durch sein kompositorisches Schaffen und in Anlehnung an frühere Erfolge in dieser Spielstätte sowie rund ums Haus stand der Titel: diagonal.

Konzerte und Aktionen ins Draußen verlagert

Nach Art einer der zwischen 2004 und 2013 gegebenen “Diagonale”-Veranstaltungen sollten an einem Abend bis in die Nacht die ganzen Räumlichkeiten der Halle und die unmittelbaren Außenbereiche von Ensembles und Solisten mit Klang gefüllt werden. Zwei Verschiebungen und diverse Hygienekonzepte später konnte die Cooperativa das Festival endlich stark modifiziert durchführen, was einerseits zu heiteren Reminiszenzen an Schulz` bewegte Vergangenheit als Planer und Dirigent von Musikerzusammenrottungen im öffentlichen Raum führte, andererseits zu einem recht unerquicklichen Konzertabend im Haus.

Reminiszenzen an die “Diagonale” wie etwa 2008: das gemischte Ensemble zusammen mit Willem Schulz vor der Oetkerhalle. Fotos: Rainer Schmidt

Zum Auftakt der Ouvertüre zieht das Erste Improvisierende Streichorchester seine Runden ums Parkett, Klangwolken knüpfend im Dialog mit einem lang ausschwingenden Gong. Hier wird der Anspruch des Komponisten deutlich und innig nachfühlbar, den gegebenen Raum und die Zeit in die musikalische Auseinandersetzung mit einzubeziehen und die Innerlichkeit der Töne vor dem Ohr der Zuhörer auszubreiten. Andere Programmpunkte wie das recht frische Vokalterzett „fliegend“ wären in einem kleineren Auditorium besser zur Geltung gekommen als im großen Saal mit seiner gerade mal so als Publikum spürbaren Zuhörerauslastung.

„Haus für Tuba“ aus dem Jahr 2012 wartet mit einer exzellenten Spezialistentruppe für Neue Musik auf: dem Leipziger „Ensemble Contemporary Insights“. Als interaktives Konzert für Tuba und Ensemble umfasst es in einem theatralisch aufgeladenen und intellektuell konstruierten Dialog extreme musikalische Gemütszustände und ziellose Bewegung im Bühnenraum und darüber hinaus. Die Tuba ist entblößt als reichlich uncharismatisches Soloinstrument, das Ensemble gibt sich beim Versuch, an eine Death Matal-Band anzuklingen mit seinem Neue Musik-Instrumentarium der Lächerlichkeit preis. Den Lacher erntet der Solist, indem er als Reaktion darauf seine Lülle auf den Bühnenboden ergießt.

Massen, die nebeneinander her existieren

Das Fluxus-Gedicht „Hier Gilt“ des adoleszenten Willem Schulz gestaltet Stimmakrobat Mitch Heinrich in pompöser Selbsterfülltheit, mit schamlos ausgedehnten Wirkungspausen. Dies ist mehr als flüssig. Dann steht eine Uraufführung an. „Massen“ vereint Klänge in einer Komposition, welche die Mitglieder des Cooperativa Ensembles mit diesem Begriff assoziieren, und auf ihren Instrumentarium reproduzieren können. Marcus Beuter fährt eine seiner verfremdeten Ambient-Aufnahmen ab, sehr mehrdeutig klingend nach Industriefertigung, Verkehr oder auch Applaus. Andreas Kalings Basssaxophon tritt in Korrespondenz mit den dichten, herrlich abstrakten Elektroniksounds Peter Schwiegers, diese wiederum mit den klangvollen Wirbeln aus Djamilija Keberlinskaja-Wehmeyers Flügel. Einen darüber gezogenen Spannungsbogen sucht der Zuhörer vergebens. Willem Schulz ist eher verhaftet im Prinzip „nacheinander…übereinander. Pause. Leere. Stille. Neuanfang.“, wie er es selbst einmal formulierte.

Eine zweite Chance mochte der Rezensent ihm im Nachtkonzert nicht mehr zubilligen, wurde aber dennoch kurz nach fünf mit dem Gedanken wach, vielleicht doch noch die Möglichkeit zu haben, bei „diagonal“ im Teutoburger Wald sein erstes wirklich in der Morgendämmerung durchgeführtes Konzert zu erleben. Egal, Dämmerung scheint nicht in Sicht… (es wurde ihm später zugetragen dass es wunderbar gepasst habe, erst nach Abebben der Streicherklänge sei der Wald akustisch zum Leben erwacht).

Die Obernstraße, belegt vom Erten Improvisierenden Streichorchester und Fiedelduellen.

12 Uhr mittags, die Sonne ist endlich durchgebrochen. Die Innenstadt ist voll, die Leute sehen GUT aus. Wieder ist das Erste Improvisierende Streichorchester auf den Beinen. Als Walk Act führen die bunt gewandeten Streicher*innen eine Choreographie mit räudigem Blues und „Extinction Rebellion“-Anmutung auf, begleiten en passant einen zum Playback singenden Straßensänger, Akteure zweier anderer Darbietungen marodieren auf eigene Faust umher. Eine lebensfrohe Zumutung, die an die Zeit erinnert, als solche Gruppen mit der Arche Nova-Karawane des von Schulz mitbewohnten und -gegründeten Meller Kulturzentrums Wilde Rose durch die Stadtzentren der Region zogen (zum 350sten Jahrestag des Westfälischen Friedens).

Schulz’ Musik als Familienangelegenheit

Am Nachmittag trifft man diese bunte Familie – bemerkenswert ist, dass Schulz‘ Mitstreiterschaft nicht einfach mit ihm mit gealtert ist, mittlerweile spielen drei Generationen seiner eigenen Familie mit – wieder: im Bürgerpark führen sie kreuz und quer entlang der Wege den „Schrägen Marsch“ auf, der nach einem raumfüllenden Innehalten in der U-Bahn-Station zum Portal des Konzerthauses führt, wo noch ein mit Gehörfutter und Verschrobenheiten aus fünf Jahrzehnten prall gefülltes Programm aufs Publikum wartet.

Ein Nachmittag im Park mit dem gemischten Ensemble, Willem Schulz und dem “Schrägen Marsch” um die Oetkerhalle
Rainer Schmidt

Autor*in: Rainer Schmidt

"Wenn man sich schon Illusionen macht, dann aber auch richtig. Es muss stimmen, wenns auch nur von kurzer Dauer ist." – Django