Denn Bleiben ist nirgends

Foto: Antje Doßmann

Am Dienstag sind in Bielefeld die 26. Literaturtage zu Ende gegangen. Noch einmal gab es an diesem Abend auf die Stadtbibliothek einen Ansturm, der vergleichbar war mit dem Run auf Martin Mosebach, mit dem der Veranstaltungsreigen vor gut 5 Wochen begonnen hatte.

Nun stand Judith Hermann auf dem Programm, und wiewohl es eine bemerkenswerte, in der Figur des Zauberers begründete Parallele in “Krass” und “Daheim” gab, waren die Unterschiede zwischen den Romanen unüberhörbar.

Antagonistisch angelegte Figuren, Ortswechsel, Zeitsprünge, Stimmungs- und Perspektivwendungen – kurz: das ganze Spektrum souverän gehandhabter moderner Erzählkunst beim Büchner-Preisträger Mosebach. Reduzierung, Konzentration, Klarheit der Sprache und Gefühle in einem zugleich doppelbödigen traurig-schönen Metaphernspiel bei der immer auch mit autofiktivem Hintergrund schreibenden schnörkellosen Stilistin Judith Hermann. Opulenz und Stringenz, die wie zwei Pole wirkten, zwischen denen die verschiedenen Lesungen das Spannungsfeld der diesjährigen Literaturtage unter dem Motto “Vom Wunsch anzukommen” vermaßen.

Martin Mosebach (Foto: Antje Doßmann)

Entsprechend zerrissen nahm in den vorgestellten Werken der gegenwärtige Mensch mit seiner Sehnsucht nach innerer Verortung in einer immer verzweifelter am Rad der Wünsche drehenden Weltwirklichkeit Gestalt an. In der Rückschau erscheint die Auseinandersetzung mit einer grundlegenden Lebensmüdigkeit und die dazugehörige literarische Spurensuche in der Familien- und Zeitgeschichte besonders bei den vertretenen Autorinnen als starker Antrieb zum Schreiben.

Felicitas Hoppe (Foto: Antje Doßmann)

So tauchten einschneidende Erlebnisse in der Kindheit, frühe Gefühle der Verunsicherung und Verlassenheit sowohl bei Felicitas Hoppe, ebenfalls mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet, als auch bei Marente de Moor auf. Wenngleich weder Hoppes autobiografischer Bericht “Fieber 17” über eine wochenlange sogenannte “Verschickung” im Kindesalter noch de Moors Roman “Phon”, in dem menschliche, konkret weibliche Einsamkeit ein zentrales Thema ist, so schmerzlich von seelischer Verletzung handelte wie Judith Hermanns “Daheim”. Denn hier ging es um das verheerendste Trauma, das Menschen widerfahren kann: Auf die Welt zu kommen und ohne Liebe aufzuwachsen, emotional vernachlässigt, in jeglicher Hinsicht missbraucht, misshandelt, ufer- und wurzellos ins Leben aufbrechen zu müssen.

Marente de Moor (Foto: Klaus Hansen)

Hermann bringt das Drama nicht direkt zur Sprache, aber es empfiehlt sich beim Lesen auf die unterschiedlichen Kisten zu achten, die in dem Roman vorkommen. Dass die namenlose Protagonistin befähigt wird, diese nach und nach zu öffnen und ihrer tief verborgenen Kindheitserfahrungen gewahr zu werden, womit eine Bewältigung des Traumas in Gang gesetzt werden kann, verdankt sich einem anderen Menschen, verdankt sich der Liebe. Eine Rettung. Nicht jeder und jedem gelingt sie in diesem bewegenden Schlüsselroman.

Dass die Liebe das letzte Wort behielt bei den vom Publikum mit so viel Freude, so großer Begeisterung aufgenommenen Literaturtagen, war mehr als eine besänftigende Streicheleinheit zum Ausklang. Trost hat, so viel ist uns Heutigen bewusst, wie Mut gratis keinen Wert. Dass die Frage aber nach einer zumindest temporären Heimat für die Seele, die selbst Rilke, von dem die Zeile “Denn Bleiben ist nirgends” stammt, unter bestimmten Bedingungen für möglich hielt, in der Literatur noch immer (oder wieder) mit “Liebe” beantwortet wird, zeigt die Richtung an, in die es gehen könnte.

Judith Hermann (Foto: Antje Doßmann)
Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.