Es sind noch Lieder zu singen

Es gibt viele Gründe, Gedichte zu schreiben. Die meisten haben etwas mit Trotz zu tun. Reich wird man davon nicht. Anlagetechnisch ist Lyrik ein totes Gleis. So stillgelegt vielleicht wie bei Eckart Balz, dessen erster Gedichtband so hieß: “Stillgelegte Gleise”. Nun hat der Bielefelder Autor im Chiliverlag erneut Verse herausgegeben. “Projekt: 731” heißt das Werk.

Auch dieser Band wird seine Leserinnen und Leser finden, wenn auch nicht in großer Zahl.  So ist das eben mit Gedichten. Sie polarisieren a priori, und so geschrieben sehen die Worte fast aus wie ein kursives Einsprengsel in einem der anagrammatischen Gedichte Marcus Neuerts. Mit “fischmaeuler. schaumrelief” sind die 104 Miniaturen des Mindeners überschrieben, die Jürgen Broϛan in seine kleine, feine Sammlung edition offenens feld (eof) aufgenommen hat.

Nimmt man zu diesen beiden Bänden noch “Setzen wir uns” dazu, die unlängst im Kunstsinn-Verlag erschienene Auswahl von Gedichten des in Bielefeld lebenden Autors Thomas Beblo, so hat man einen guten Querschnitt von Lyrik vor Augen, die in der Region entstanden ist. Die Publikationen stehen auch exemplarisch für drei sehr unterschiedliche Schreibverfahren und unterstreichen die Vielfalt lyrischer Positionen.

Zwei Jahre, zwei Zeilen: Eckart Balz’ zwischen Aphorismus und Alltagsbewältigung angesiedeltes projekt: 731

Als Eckart Balz im Februar 2019 seinen Gedichtband “Stillgelegte Gleise” vorlegte, fand sich  neben der Sammlung von Gedichten aus 40 Lebensjahren auch eine Art lyrisches Versprechen, das sich der Autor damals selbst gab. projekt:731 hieß das Gedicht und es nahm vorweg, was der Sportwissenschaftler dann später tatsächlich genau unter diesem Titel realisierte.

Zwei Jahre lang notierte Eckart Balz Tag für Tag zwei Zeilen, “Rieb”, wie er es formulierte, “sein Leben mit Versen ein” – was für eine verlockende Vorstellung! Dass es ausgerechnet die Coronajahre werden sollten, in die sein Projekt fiel, hatte er sich natürlich im Vorfeld nicht ausgemalt.

Aber so spielt das Leben und Eckart Balz spielt mit ihm. Herausgekommen sind dabei ganz am Alltag orientierte, auf eigensinnige Weise geordnete Notizen, die Lust wecken, selbst einmal in dieser konsequenten Weise “Tagebuch” zu schreiben, d.h. Gedankenfäden über einen streng definierten Zeitraum und auch in einem streng definierten Maß zu knüpfen und dann zu prüfen, was das Formale eventuell mit den eigenen Ideen macht. Ob sie klarer werden?

Für Eckart Balz jedenfalls, den disziplinierten Schreiber und exakten Vermesser des eigenen inneren Sprachraumes, ist mit diesem Projekt die Reise ins Reich der Lyrik beendet, wie er bekundet. Uns bleibt, dem Hochschullehrer mit einem Augenzwinkern und der lächelnden, aus der Lektüre seiner Verse gewonnenen Gewissheit, dass er zu Selbstironie fähig ist, zur glänzend bestandenen Lyrikprüfung zu gratulieren.

Fundstücke und Kunstgriffe: Marcus Neuerts anagrammatische Miniaturen fischmaeuler. schaumrelief

Marcus Neuert war in Spiellaune, als er in der Vorweihnachtszeit 2013 begann, sich mit Anagrammen und der Möglichkeit ihrer Verarbeitung in Gedichten zu beschäftigen. So berichtet der mit verschiedenen Literaturpreisen ausgezeichnete, in Frankfurt a. M. geborene, in Minden lebende Autor in dem ausführlichen und sehr erhellende Einblicke in seinen Schreibprozess liefernden Vorwort des aktuellen Gedichtbandes “fischmaeuler. schaumrelief”.

Was als Gedankenspielerei und Formexperiment anfing, entwickelte sich bald zu einem sinnfälligen und tragfähigen Schreibverfahren für den auch als Prosaautor arbeitenden Lyriker. Seine am Puls der Zeit angelegten, mit dem anagrammatischen Moment variabel spielenden Miniaturen besitzen Gedankenschärfe und Empfindungstiefe und durch den sprachlichen Kniff ein raffiniertes  Zusatzgeheiminis, das den Gedichten neben ihrem hohen Wiedererkennungswert auch eine besondere Qualität verleiht.

Wer also nahm wen an die Hand in den Gedichten Marcus Neuerts? Das Anagramm den Gedanken oder umgekehrt? Der Dichter selbst antwortet darauf entschieden: “umgekehrt!” Immer sei da zunächst die Idee gewesen, das innere Bild, eine bestimmte Überlegung oder Empfindung auf der Suche nach der passenden Form. Und erst dann wäre das Anagramm ins Spiel gekommen. Was er damit meint und wie sich sein lyrisches Verfahren vorstellen lässt, verdeutlicht ein Gedicht wie “beide seiten”:

beide seiten

ich bediene seit jahren in einem

laden in dem diebe steine klauen

dein teesieb haengt voller gedanken

sei beneidet um sie mein freund

doch deine bestie lebt auch noch

nach der siebten idee sie zu toeten

ich dagegen bete in seide des abends

man muss eben beide seiten sehen        

Gedankentäler, Seelenlandschaften: Thomas Beblos feinsinniges Sprachabtasten am lebenden Menschen Setzen wir uns  

Thomas Beblo hingegen, wie Marcus Neuert Mitglied der Bielefelder Autorengruppe, verfolgt beim Schreiben einen anderen Ansatz. Zu seinem lyrischen Confessio gehört, alles, was er in Sprache fasst, dem eigenen Erleben und Empfinden zu entnehmen und mittels häufig der Natur entlehnter Metaphern, Bilder und Vergleiche dichterisch darzustellen. Solcherart gespiegelt, ist eine hohe Authentizität signifikant für das lyrische Ich in seinen Gedichten, teilen sich dessen Epiphanien, Momente der Freude, aber auch Verunsicherung und Verletzlichkeit unmittelbar und unter die Haut gehend mit.      

Nach seinem 2012 erschienenen Gedichtband “Orte, die Du nicht kennst” versammelt “Setzen wir uns” erneut Texte, die mit langem, leisem Nachklang von der zerbrechlichen Schönheit des Lebens und der Welt berichten. Die entschiedene Subjektivität seines poetischen Verfahrens verhindert nicht das Auftauchen der Gegenwart mit ihren konkreten Erscheinungen in den Gedichten Thomas Beblos. Das Große erscheint nur eben im Kleinen.

Fein beobachtete Situationen in Alltag, Beziehung und Familie erzählen vom menschlichen Zusammensein, vom oft so schönen und manchmal so schwierigen Miteinander von Mann und Frau. Seine fragenden, zuweilen ganz leicht daherkommenden, aber immer in die Tiefe reichenden Verse erzählen auch von den Jahreszeiten und der Unterschiedlichkeit des Empfindens vor sich verändernden Naturlandschaften. Am berührendsten vielleicht in dem Gedicht “Ohne Spur”:

Ohne Spur

Vom Mai mitgerissen

lief ich durch den Raps,

doch als wäre ich nicht geschehen

richteten sich hinter mir

alle Halme wieder auf

Da durchlief mich die Angst,

und erst später,

tiefer im Raps sah ich,

dass auch die Angst, so wie ich,

keine Spur hinterließ.

Ich war Läufer, ich war Feld, und ahnte:

So könnte Erlösung sein.

Ein hintergründig-humoristischer Ton kommt zudem durch den Zyklus “Mit psychischen Störungen durch das Jahr” in das Buch, das durch die puristischen Holzschnitte von Herbert Blaschke ergänzt wird. Schön!

Lit.:

Eckart Balz: projekt: 731, Chili-Verlag, 120 S., 11,90 Euro.

Thomas Beblo: Setzen wir uns, Kunstsinn Verlag Bielefeld, 110 S., 10,90 Euro.

Marcus Neuert: fischmaeuler. schaumrelief, Anagrammatische Miniaturen, eof, 136 S., 17,50 Euro,  

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.