Lob des Mäanderns

Was bleibt von Dirk Raulfs heimat:kunden? Die Fortführung und Ausweitung der kulturellen Aktivitäten in der ehemaligen Lippstädter Synagoge, deren Hintergrund nun mit einer berührenden Ausstellung beleuchtet wird, wird dazugehören. Da ist sich der in Köln lebende Künstler sicher. (Fotos: Antje Doßmann)

Mit einer letzten Reihe von Begegnungen in der ehemaligen Synagoge klingt Dirk Raulfs Lippstädter heimat:kunden-Projekt in diesen Tagen aus. Eine Veranstaltung, die dort in der provisorisch hergerichteten Kulturstätte am vergangenen Freitag stattfand, brachte in schöner Verdichtung noch einmal zum Ausdruck, was den besonderen Reiz der ungewöhnlichen Initiative des in Lippstadt aufgewachsenen, in Köln lebenden Künstlers ausgemacht hat.

Geladen waren an diesem Abend zwei Gäste. Ulrich Detering, Dezernent bei der Bezirksregierung und u.a. zuständig für die Renaturierung der Lippe sowie Dirk Raulfs “Deep Schrott”-Kollege Andreas Kaling, Bass-Saxophonist aus Bielefeld. Das übergeordnete Thema: Wie gehen wir mit den natürlichen Ressourcen um? Eine Frage, die Raulf im Verlauf seiner mit weit geöffneten Sinnen durchgeführten künstlerischen Feldforschung neben den soziokulturellen und historischen Aspekten der Heimaterkundung immer wieder beschäftigt hat.

Was Ausdauer heißt, hat er mit den heimat:kunden eindrucksvoll bewiesen. Auch Kritiker, denen sein Rühren in allen Lippstädter Töpfen zu weit ging, werden ihm das bescheinigen. Das gesamte Jahr 2020 über hat er in täglichen Blog-Einträgen andere daran teilnehmen lassen, wie das große, großartige Projekt in Fluss kam, Fahrt aufnahm, anfing zu mäandern und sich zu verzweigen. Als wäre es selbst wie die Lippe, die sich auch einmal durch die Stadtumgebung schlängelte, bevor sie brutal begradigt wurde. Ein Vergehen. Nun wird sie seit einiger Zeit sukzessive renaturiert.

Wie aus der mäandernden Lippe ein einbetonierter Pseudo-Kanal wurde, demonstrierte Ulrich Detering anhand eindrücklicher Graphiken

Ulrich Detering berichtete davon mit solch lebendiger Freude, so viel eigenem Einverständnis mit seiner Aufgabe, der mit “Abstand spannendsten in der gesamten Bezirksregierung”, wie er sie nannte, dass das Publikum gar nicht anders konnte, als ihm vergnügt und gespannt zuzuhören. Unmöglich, an dieser Stelle alles wiederzugeben, was aus ihm an erstaunlichen Informationen heraussprudelte. Es ging um Moderlieschen und Quappen, die es nun wieder in der Lippe gibt, um den überraschenden Fund der als ausgestorben geltenden Kleinen Flussmuschel, Unio crassus, (ah, allein dieser Name!). Es ging um Nutrias und den Rhône-Biber und den Elbe-Biber und nun auch den Lippe-Biber. Es ging um rückgezüchtete Auerochsen und eine Auenlandschaft, die neu entstehen darf. Es ging kurz gesagt um die Wiedergutmachung des Vergehens.

Musik in Raulfs Ohren. Niemand hat Lippstadt wohl so gründlich aufs schlagende Herz gehorcht wie der Wahl-Kölner. Im übertragenden Sinne, aber auch ganz buchstäblich. Immer wieder hat er ihre Klänge aufgenommen, über Wasser, unter Wasser. Einige dieser Tondokumente spielte er an dem Abend ab. Erschreckend der allgegenwärtige Verkehrslärm, beruhigend darin trotz allem das menschliche Stimmgewirr, vollkommen besänftigend aber nur das leise Murmeln des Flusses. Denn unter Wasser ist die Lippe still. Die Menschen haben den Fluss einst für ein wildes Tier gehalten, das durch Begradigung und auch zur gezielten Bewässerung der Äcker gezähmt werden müsse. Der Plan ging nicht auf, die Angst hält sich bei einigen dennoch.

Ganz anders dagegen das Naturverständnis von Dirk Raulf. Flüsse, sagte er an einer Stelle, seien für ihn wie Wesen, die geheimnisvoll und mythisch Geschichten erzählen vom Verströmen des Lebens in der Zeit. Und da war zu ahnen – auch hinter seiner Ungeduld und gelegentlichen Spottlust auf der anderen Seite – , wie sehr ihn das alles aufregt, deprimiert, fertigmacht: Die permanente Vergewaltigung der Natur. Die Rücksichtslosigkeit. Der fehlende Respekt. Die mangelnde Liebe. Die Zerstörung. Der Raubbau. Die sinnlose Verschwendung von Ressourcen.

Ein Thema, das auch den Musiker Andreas Kaling seit langem umtreibt. Aus seinem vor einigen Jahren erschienenen Album “As If There Was A Tomorrow” spielte er u.a. das Stück “Good and Bad”. Und das wohl bekannteste deutsche Volkslied “Der Mond ist aufgegangen” klang auf dem Bass-Saxophon unter seiner Bearbeitung eher nach einem bevorstehenden Desaster als nach gemütlicher Nachtruhe. Das gemeinsame Improvisieren der beiden musikalischen Weggefährten am Ende der Veranstaltung gab mit auf den Weg, was als Stärkung jetzt gebraucht wird: Energie, Kraft, Widerstandsgeist und kritisches Bewusstsein.

Trotzig, traurig manchmal und wie sein “Deep Schrott”-Kollege Andreas Kaling immer auf der Suche nach dem Klang der Dinge: Dirk Raulf
Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.