„Mein Endziel ist das Gesamtkunstwerk“

Wenzel Hablik, Große bunte utopische Bauten, 1922 Foto: Kunstforum Hermann Stenner

Zur Ausstellung Wenzel Hablik im Kunstforum Hermann Stenner

Kristalline Architekturentwürfe, intergalaktische „Luftkolonien“, mechanische Flugkörper, Sternenhimmel, Berglandschaften und Möbelentwürfe – geht’s denn noch? Mit Verlaub, es geht sogar noch mehr: Textilentwürfe, Besteckgarnitur, Innenarchitektur.

Der Reihe nach: Wenzel Hablik wird 1881 als Sohn des Ehepaares August und Maria Anna Hablik in Brüx (heute Most, Tschechien) – also im böhmischen Teil der kuk-Monarchie geboren. Er absolviert in der väterlichen Tischlerwerkstatt eine Lehre, die er im Alter von 14 Jahren als Meister abschließt. Hier zeigt er schon Hinweise auf außerordentliche Begabung. Damals wandert er durch die Sudeten, ein Gebirgszug, der das Erzgebirge mit den Karpaten verbindet. Die Passion des Bergwanderns, Bergsteigens führt ihn 1906 z.B. bis auf den Mont Blanc. Liest man heute Berichte über das Besteigen dieses Berges, kommt diese Tour einem nicht unbedingt leicht, aber bezwingbar vor. Aber die heutige Infrastruktur gab es damals nicht. Er war allein auf sich angewiesen. Von dieser Einsamkeit kündet sein Gemälde „Sonnenuntergang am Mont Blanc“ von 1906. Auf der charakteristischen Spitze des Berges steht ein Mensch, auf den Sonnenuntergang in ein Wolken- und Himmelmeer blickend. Assoziationen mit Caspar David Friedrichs Gemälde „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ drängen sich auf. Die leuchtenden Orange-, Rot und Violetttöne wiederum weisen auf expressionstische Einflüsse.

Wenzel Hablik, Gletscher, 1917 Foto: Kunstforum Hermann Stenner

Doch vor dem Mont Blanc kommen noch ganz andere Erfahrungen. Ob er kurz in eine Porzellanmalerlehre hineinschnuppert oder Erfahrungen in der Passion der Geometer sammelt – im September 1898 geht er nach Teplitz-Schönau (heute Teplice, Tschechien) an die Fachschule für Tonindustrie und verwandte Gewerbe. Er bleibt also noch in der näheren Heimat, schließt das Studium ab und geht 1902 nach Wien, studiert dekorative Malerei, grafische Künste, Schrift, Heraldik und Anatomie. Er zeigt mithin ein vielfältiges Interesse jenseits der Fachschule. Er lernt Schriftsteller wie Arthur Schnitzler, Jacob Wassermann oder Alexander Roda Roda kennen. Er fängt mit einer Kristall-, Muschel- und Schneckensammlung an. Zwischenfrage: Was soll das werden? Verzettelt er sich nicht? Vor allem: Wie finanziert er das? Im kurz gefassten Lebenslauf ist lakonisch vermerkt: „Er arbeitet in Wien als Privatlehrer und entwirft Stoffmuster.“ Es scheint also irgendwie voranzugehen, wenn auch unter schwierigen Umständen. Er wechselt 1905 nach Prag an die Akademie der Bildenden Künste, besteigt 1906, wie schon erwähnt, den Mont Blanc und verlässt 1907 die Prager Akademie. Die Prager Jahre sind beeinflusst von symbolistischen Motiven, wie sehr eindringlich das Gemälde „Schlafende Mutter“ von 1907 belegt: Die von Schlangen umwundene rothaarige Eva – Personifikation der Verführung und der Sünde, damals ein gängiges Thema, siehe u.a. Franz von Stuck. Größeren Einfluss scheint aber Edvard Munch zu haben, der 1905 und 1906 in Prag gezeigt wird in großen Ausstellungen. Aber da gab es ja nicht nur Munch. Van Gogh wird 1903 in der Wiener Secession gezeigt, 1906 in Prag. Habliks Gemälde „Die Schlafstube meiner Eltern“ erinnert durchaus an des Franzosen Gemälde seiner Schlafstube.

Wenzel Hablik, Sternenhimmel, 1909 Foto: Kunstforum Hermann Stenner

Das alles zeigt Wenzel Hablik bislang als Lernenden, begierig Aufsaugenden. Seine  eigene, offizielle Kunst erschöpft sich vor allem in Prag in Auftragsarbeiten: Porträts. Da sind keine Experimente vorgesehen. Dabei beginnt er schon 1903 mit kleinen, gelegentlich auch aquarellierten Bleistiftzeichnungen mit kristalliner Architektur. Anregung dazu bot ihm wohl die entsprechende Literatur über kristalline Welten von Goethe über Novalis und Stifter bis zu Scheerbart. Er war mit diesen Entwürfen vermutlich der erste Künstler der europäischen Kunstgeschichte. Immerhin eine Idee, deren Utopie er über zwanzig Jahre hinweg verfolgt. Und wohl auch einen Anflug von Größenwahn mit sich bringt: „Nicht, daß ich mich nach den vergangenen Zeiten der großen Burgen und unbezwinglichen Festen sehnen würde, aber dem Menschen etwas vor sein Gewissen hinstellen, das ihm die Idee eines gemeinsamen Strebens zugunsten eines Weltwerkes aufdrängt, das wäre meine Absicht.“ So 1906. In die gleiche Kerbe schlägt die Überzeugung, für den Künstler gebe es nur einen Weg, „nämlich den, die Natur nicht nachzuahmen, sondern es ihr gleich zu tun.“ Aber wer zum Gesamtkunstwerk drängt, muss wohl so denken. Und er erfährt ja auch Kritik, gar Ablehnung, wenn er feststellt, dass er keine Abnehmer für seine Bilder, Zeichnungen und Entwürfe findet.

Wenzel Hablik, Eine Wolke, 1910 Foto: Kunstforum Hermann Stenner

Aber das Glück wendet sich. Im Juli 1907 folgt er einer Einladung des Malers Otto Ewel nach Dresden. Dort lernt er den Herausgeber der Zeitschrift „Kunstwart“, Ferdinand Avenarius, kennen. Es schließt sich eine Einladung nach Sylt an, der Hablik erst folgen kann nach einer ausgedehnten Ostseereise. So lernt der Künstler in schneller Folge erst die Ost- und dann die Nordsee kennen, was seiner Kunst neue Impulse gibt. Vor allem die Bilder der stürmischen Nordsee zeigen diese, wie z.B. das Bild „Sylt, Brandung“. Die senkrechten, pastos nebeneinander gesetzten Spachtelstriche der aufgepeitschten Gischt einerseits, die horizontal angeordneten Farbschichten andererseits lösen das aufgewühlte Meer in weitgehend abstrakte Partien auf. Das Bild lässt Assoziationen der Art zu, dass man das Meer als gefräßig, aggressiv betrachten kann. In seinem – bildlich gesprochen – überschäumenden Größenwahn notiert er 1908: „Niemals aber auch hat jemand vor mir das Meer so gemalt wie ich. Niemals kann es jemand heißer geliebt haben – besser – tiefer gefühlt. Wenn es ein Lebewesen wäre, es müsste mich geboren haben.“ Ein Künstler darf so denken. Bei einem Abstecher nach Helgoland lernt Hablik den Itzehoer Holzgroßhändler Richard Biel kennen. Diese Bekanntschaft bedeutet das große Los für den Künstler. Nach kurzem Zögern siedelt er um nach Itzehoe und hat fortan den Ort gefunden, an dem und von dem aus er seine Kunst be- und vertreiben kann. Vor Ort gestaltet er Möbel, komplette Inneneinrichtungen, Schmuck und andere Gebrauchskunst. Außerdem porträtiert er das Itzehoer Großbürgertum. Das klingt jetzt so, als sei das ziemlich glatt und problemlos von statten gegangen. Vor allem der Blick auf seine Innenausstattungen lässt erstaunen. Nicht wegen seiner Entwürfe, die konnte man als gewagt erwarten, sondern wegen der Toleranz seiner Kunden. Itzehoe verschaffte ihm die Sicherheit, die ein freischaffender Künstler braucht, um gesichert seinen – in diesem Fall hochfliegenden – Plänen folgen zu können. Und da kam ja noch so einiges. Da ist z.B. sein Gemälde „Sternenhimmel“ von 1913, zu dem sehr gut die Flugmaschinen etwa ein Jahr später passen. Deren Skizzen wiederum an Leonardo da Vincis Flugmaschinen ebenso erinnern wie an Otto Lilienthals Flugobjekte. Damit nicht genug, vollendet er seinen ersten Radierzyklus „Schaffende Kräfte“ 1909. Soll man sagen, selbstverständlich beschickt er die Berliner Sezession, selbstverständlich stellt er in Herwarth Waldens Galerie “Der Sturm” aus? Für jemanden, der zum Gesamtkunstwerk strebt, mag das selbstverständlich sein. Es zeigt aber, dass Wenzel Hablik in Itzehoe nicht kunstweltabgewandt lebt. So kehrt er z.B. von einer dreimonatigen Reise durch Italien und Griechenland nach Konstantinopel mit vorher nie gesehenen Eindrücken von Material- und Ornamentreichtum zurück. Das befördert seinen ohnehin großen Einfallsreichtum gerade auf dem Gebiet der Textilkunst.

Wenzel Hablik, Tragende Kuppel, 1918/23/24. Foto: Kunstforum Hermann Stenner

Nicht zuletzt findet er in Itzehoe sein Familienglück. Schon 1907 lernt er durch seinen Förderer Otto Lindemann dessen Tochter Elisabeth kennen. Das älteste von 11 Kindern erhält eine private Ausbildung zur Musterzeichnerin und leitet ab 1902 im Auftrag des Landrates in Meldorf eine Museumsweberei. Die Zusammenarbeit der beiden ist nicht nur ökonomisch erfolgreich. Es braucht freilich 10 Jahre, bis sie heiraten. In den 1920er Jahren sichert die erfolgreiche Weberei den Familienunterhalt.

1917 entsteht im Sinne eines Gesamtkunstwerks das Haus des Ehepaares Hablik. Das Paar kauft sich eine Gründerzeitvilla, die Zug um Zug umgebaut wird nach eigenen Entwürfen. Hier realisiert das Künstlerpaar Hablik, wie es in seiner eigenen Kunst leben möchte. 1933wurde die postexpressionistische Raumausstattung im Zuge einer Renovierung verkleidet. Das sicherte ihr das Überleben während der Nazi-Zeit. Der frühe Tod Wenzel Habliks 1934 beendet ein Künstlerleben, das in seinem Formenspektrum und Farbenreichtum bis heute seinesgleichen sucht. Und es bestätigt seinen wunderbaren Ausspruch: „Muss ich schon hier an der Erde kleben – dann wenigstens nicht mit dem Hirn.“ Nur mit solcher Gedankenfreiheit kann sich ein Künstler wie er an ein Gesamtkunstwerk wagen.

Einmal mehr beweist die Leiterin des Stenner Kunstforums, Christiane Heuwinkel, wie man mit kleinem Budget große Ausstellungen herstellen kann. Und mit dieser Ausstellung erweitert sie das Spektrum zeitgenössischer Künstlerkollegen Hermann Stenners beträchtlich. Zu loben ist auch einmal mehr die architektonische Lösung im Obergeschoss. Die eingebauten Kabinette erlauben Themenschwerpunkte, denen man sich in aller Ruhe widmen kann.

Wenzel Hablik Kristall Träume  Expressionismus Architektur Utopie bis 6.3.2022

Autor*in: Uli Schmidt

Seit langem bekannt als "Der Kulturbote" aus Ostwestfalen: So empfängt Uli Schmidt heutzutage seine Gedankenblitze.