Mensch in Mausefalle

Elternaufgabe: Cornelius Gebert und Leona Grundig in der starken TAMzwei-Inszenierung von Nina Segals Zweipersonendrama "Nachts (Bevor die Sonne aufgeht" Foto: Philipp Ottendörfer

Am Freitagabend, während draußen Wind und Regen durch die Straßen fegten, Sirenen ans Ohr drangen und irgendwo ein Mensch eine Parole brüllte, feierte im Bielefelder Theater am Alten Markt Nina Segals “Nachts (Bevor die Sonne aufgeht)” in einer Inszenierung von Christina Gegenbauer Premiere. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Nichts? Alles?

Es sind Fragen dieser Art, die bei Nina Segal auftauchen und ähnlich wie in dem Zweipersonenstück “Atmen” ihres acht Jahre älteren britischen Landsmannes Duncan McMillan mit der Geburt eines Kindes zusammenhängen. Ein Wunschkind zwar, aber es schreit. Und schreit. Und schreit. Die ganze Nacht hindurch. Und obwohl das Babygeheul nicht ein einziges Mal zu hören ist in diesem scheinbar ganz privaten und doch die ganze Welt ins Visier nehmenden Drama, schrillt es durch das immer nervenzerfetzter werdende Agieren der um den Schlaf gebrachten Eltern hindurch.

Leona Grundig und Cornelius Gebert spielen das panische Paar mit schmerzlicher Intensität und lassen das nahe und doch wie durch eine unsichtbare Wand von ihnen getrennte Publikum zu mitfühlenden Zeugen dieser horriblen Nacht werden. Denn der anhaltende Schrei ihres gemeinsamen Kindes setzt eigene Urängste in ihnen frei, denen sie zunächst bestürzend wenig entgegenzusetzen haben. Weshalb sich bald radikale Selbstzweifel entladen, Versagensängste, von Weltwiderwillen erfüllte Untergangsphantasien, bittere, gegen den Partner gerichtete Vorwürfe.

“Die Welt ist fort, ich muss dich tragen” – Cornelius Gebert und Leona Grundig im übernächtigten Jungelternmodus Foto: Philipp Ottendörfer

Erst in diesem postnatalen Ausnahmezustand erfahren sie am eigenen Leib, wie extrem dünnhäutig sie geworden sind durch die Geburt des Kindes. Und dadurch durchlässiger für die Gefahren, Schrecken und grausamen Gesetzmäßigkeiten menschlichen Lebens. Vater, Mutter, Kind – alle drei erscheinen über weite Strecken des Stückes gleichermaßen ausgeliefert, neugeboren, hilflos.

Eine gefährliche Schieflage, die durch die von Bühnenbildner Frank Albert raffiniert ins Spiel gebrachte schräggestellte Ellipse mit ihren kosmischen Rotationen, auf der sich das nächtliche Geschehen abspielt, wirkungsvoll versinnbildlicht wird. An dieser Spielfläche rutschen Leona Grundig und Cornelius Gebert in grotesken, ebenfalls von Albert entworfenen Raumfahreranzügen zu Stückbeginn herunter. Auch sie, so lässt sich die Szene vielleicht deuten, mussten sich, als sie sich kennenlernten, erst aus ihren Schutzanzügen herausarbeiten, um sich dem anderen zu zeigen.

Anrührend, auch komisch dann die Szenen und Erzählungen aus der Zeit ihrer ersten Verliebtheit. Die Ausgelassenheit und Leichtigkeit, das blinde Vertrauen und das gemeinsame Lachen. Das Begehren. Schließlich das Kind, um die Liebe zu krönen. Ein Mädchen. Das gesund ist und süß und gut duftet. Dem es an nichts zu mangeln scheint und das dennoch schreit. So laut schreit, dass es wie Oskar Mazerath Glas zum Einstürzen zu bringen scheint. Dahinter aber liegt die Welt und wartet auf das neue Kind und seine guten Kräfte. Seine Eltern besinnen sich darauf zum Schluss, nehmen sich Vertrauen zumindest vor, und Nina Segal lässt “Nachts (Bevor die Sonne aufgeht)” zum Glück nicht ohne Hoffnung ausgehen.

Ihr kluges, überzeugend inszeniertes und von Grundig/Gebert mit großer Sensibilität vermitteltes Stück enthält einige herausfordernde Einsichten, die für Mikro- und Makrokosmos, kleine Familie wie große Menschheit gleichermaßen gültig sind. Dass mit der Elternschaft die eigene Kindheit unwiderruflich endet, ist eine davon. Und dass es eine Aufgabe im doppelten Wortsinn ist, für ein Kind verantwortlich zu sein, eine andere. Im Licht der aufgehenden Sonne erscheint nicht nur bei Segal das eine wie das andere sinnfällig und allemal lohnend.

Die nächsten Vorstellungen: 09.02./12.02., 26.02.

Karten gibt es auf www.theater-bielefeld.de/ Telefon: 0521 515454

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.