Das geraubte Cello

Woher stammt eigentlich das Cello, das ich spiele? Willem Schulz begab sich auf Spurensuche und wurde in Frankreich fündig Fotos: Rainer Schmidt

Es ist eine besondere Beziehung, die Musiker und Musikerinnen zum eigenen Instrument haben. Erinnerungen an Umstände, unter den man es erwarb, was man beim darauf Musizieren erlebt hat, das macht es zu mehr als einem bloßen Werkzeug, um sich selbst auszudrücken. Und eventuell hat es Vorbesitzer gegeben, die eine eigene Geschichte mit dem Instrument verbunden hat.

Willem Schulz, Musiker und Avantgarde-Komponist in Melle spielte während seiner ganzen Karriere und auch nach wie vor auf einem alten französischen Cello, das er als 14jähriger von seinem Vater geschenkt bekam.

Eine Art Familiengeheimnis

Über die Vorgeschichte des Instruments erfährt Schulz erst angesichts des Todes seines Vaters. Dieser war Amateurmusiker und hatte als Sanitäter im Frankreichfeldzug des Zweiten Weltkriegs im überfallenen Land mit Kameraden ein Streichquartett. Bei einem Angriff wurden ihre Instrumente zerstört. Die Soldaten fanden Ersatz, indem sie sich in einer Instrumentenwerkstatt eines Ortes bedienten, dessen Einwohnerschaft geflohen war. Nur mit vagen Ortsangaben ausgestattet, machte sich Schulz 2019 auf den Weg nach Nordfrankreich, um die rechtmäßigen Besitzer der Kriegsbeute ausfindig zu machen und um Vergebung zu bitten. Mit dem Cello im Gepäck.

In öffentlichen Veranstaltungen liest der Musiker seit einigen Monaten aus seinem Reisebericht und spielt einige Intermezzi auf dem Cello, wie er sie auch spontan an verschiedenen Orten seiner Recherchefahrt aufführte.

Willem Schulz liest aus den Erfahrungen seiner Reise und vollzieht die Musik, die er dabei vor Ort spielte, auf dem Cello nach

Mithilfe eines französischen Freundes näherte er sich über die Expertise eines lokalen Geigenbauers und Begegnungen in Archiven und Heimatvereinen seinem Ziel an. Auf wundersame Weise habe sich eins zum anderen gefügt, das aufrichtige Interesse und die Hilfsbereitschaft der französischen Kontaktpersonen haben ihn tief beeindruckt. Dies ist geeignet, zur Reflexion und Diskussion über den Umgang mit Schuld in den Nachkriegsgenerationen anzuregen und natürlich fürchterlich aktuell, da sich “kriegerischer Wahnsinn”, wie es Willem Schulz mit Blick auf den Auslöser der eigenen Verstrickung in die Beutegut-Problematik benennt, gerade wieder in Europa ausbreitet.

Was noch aussteht, ist eine pandemiebedingt verzögerte Vorstellung mit Konzert in einem Weltkriegs-Gedenkzentrum in Nordfrankreich, zu dem Schulz auf seiner Reise den Kontakt knüpfte und eine Publikation als Buch (als er im Dezember im Bunker Ulmenwall las, war gerade die Erlaubnis zur Veröffentlichung persönlicher Daten aus Frankreich eingetroffen). Die nächste Lesung unter dem Titel “Töne um Vergebung” findet am Mittwoch, dem 23. März in Osnabrück statt.

Das unglaubliche Klavier

Musikerdynastien, Instrumentenbesessenheit und Beutekunst, das sind die Zutaten der völlig irrwitzigen und unbedingt lesenswerten Geschichte “Das unsterbliche Klavier”, welche Avner und Hannah Carmi aufgeschrieben haben. (Urachhaus, Neuauflage 2018). Schilderungen vom Siena-Pianoforte, die Avner Carmi von seinem Großvater hörte, bestärkten den jungen Israeli in seinem Wunsch, das Klavierbauerhandwerk zu erlernen. Der Sage nach soll das als Hochzeitsgeschenk an den italienischen König gebaute Instrument aus dem Holz des Tempels von König Salomon gebaut sein.

Ohne von seiner Natur zu ahnen, begegnet Carmi dem Klavier in Libyen, wohin es britische Besatzer unter einer dicken Gipskruste verborgen verschleppt hatten, hilft bei seinem Transport und verliert es aus den Augen. Zurück im kriegsversehrten Jerusalem findet es sich praktisch vor seiner Haustür wieder.

Der Schnitzer im Flödel

Willems Cello ist solide Manufakturware aus Mirecourt in den Vogesen. Instrumente aus der Hand berühmter italienischer Meister mit ihrer mittlerweile über 300jährigen Dienstzeit haben seit langem die Fantasie von Laien und Kundigen angestachelt. Eine “Biographie” schrieb der Amerikaner John Hershey einer 1699 von Antonio Stradivari gebauten Violine auf den Korpus. In “Antonietta” (Droemer Knaur, 1992) schildert er die Fertigstellung in der Cremonenser Werkstatt, wobei dem über die Zurückweisung eines Heiratsantrags (durch die Brautfamilie) verärgerten Meister der Beitel abrutscht, was der Geige eines ihrer charakteristischen Merkmale verleiht.

Im folgenden wird das Instrument zur Zeugin und Komplizin der Kunst von Komponisten wie W.A. Mozart, Hector Berlioz oder Igor Strawinsky. Hersey hat sich gut in die Theorie der Geigenbaukunst eingelesen, scheint aber, was klimatische Empfindlichkeit und stilprägende “Seele” eines Instruments anbelangt, etwas zu sehr der esoterischen Mystifizierung Musikschaffender auf den Leim gegangen zu sein.

Ich verschenke mein Exemplar von “Antonietta”. Interessent*in möge eine kurze Nachricht an r.schmidt@resonanzen-owl.de schreiben.

Avantgarde an ungewöhnlichen Orten

Nicht nur auf Reisen, auch in heimischen Gefilden ist sich Willem Schulz für keine noch so skurrile Spielsituation zu schade. Auf der Doppel-CD “Cello in Contact” dokumentiert sind 43 Begegnungen der Schulz’schen Improvisationsfreude mit Musikerkollegen, klangsensiblen Mitmenschen oder besonderen Orten und Räumen. Der Cello-Avantgardist lässt sich inspirieren von der nur durch das Gebimmel von Kuhglocken beschallten Almidylle, spielt die Internationale in der U-Bahn Moskaus und Berlins, findet in Haushaltsgeräten wie Waschmaschinen oder Arbeitsumgebungen, etwa beim befreundeten Tischler oder in der Kunststofffertigungsanlage Dialogpartner. Oder begleitet einen im Kampfsportzentrum trainierenden Boxer mit dem Bogen. Manches ist weniger skizzenhaft angelegt als es beim ersten Höreindruck wirkt.

Manchmal möchte man kaum glauben, dass Willem Schulz sich wirklich mit Instrument an diese Orte begeben hat. Aber – die unglaublichsten Geschichten sind meist die wahrsten. Diese CD kann beim Künstler erworben werden.

willemschulz@t-online.de

Rainer Schmidt

Autor*in: Rainer Schmidt

"Wenn man sich schon Illusionen macht, dann aber auch richtig. Es muss stimmen, wenns auch nur von kurzer Dauer ist." – Django