Im Vollrausch

In der Rue de Lourcine haben nicht nur die Wände, sondern auch der Fußboden Ohren: Norine (Nicole Lippold). Lenglumé (Thomas Wehling) und Mistingue (Alexander Stürmer) sitzen zu Tisch, Diener Justin (Tom Scherer) darunter Fotos: Philipp Ottendörfer

So oder so – Männer mit Filmriss führen immer vor Abgründe. Wie komisch die saufselige temporäre Unzurechnungsfähigkeit sein kann, wenn man die nachträglichen, ausschließlich auf eigene Schadensbegrenzung zielenden Manöver ad absurdum führt, beweist “Die Affäre Rue de Lourcine”. Am Samstagabend feierte das Stück in einer Inszenierung von Markus Heinzelmann im Bielefelder Theater am Alten Markt Premiere.

Es darf gelacht werden in dieser Komödie von Eugène Labiche, die 1857 in Paris uraufgeführt wurde und streng genommen wie alle Werke des französischen Erfolgsautors nicht von ihm allein stammt, sondern im Kollektiv mit Albert Monnier und Édouard Martin verfasst wurde. Anderthalb Jahrhunderte vor dem Kultfilm “Hangover” treibt das Salonstück das Spiel mit der männlichen Ungewissheit über das eigene Treiben im Vollrausch auf die Spitze und arbeitet mit Spott anstatt mit Moral und mit dem gelassenen Vertrauen in die Wirksamkeit der Selbstdemontage seiner Figuren.

Tückische Erinnerungslücken

Uns Heutigen bleibt überlassen, wer aus Promiwelt, Politik oder Wirtschaft spontan vor unserem geistigen Auge erscheint, wenn wir die aberwitzigen Vertuschungsversuche der Korpsknaben Lenglumé und Mistingue auf der Bühne verfolgen. Was zuvor geschah? Bei einem Klassentreffen tranken die beiden so viel über den Durst, dass sich der eine, Lenglumé, nur noch bis zum Salat, der andere immerhin bis zum Fleischgericht an den Abend erinnert. Was danach geschah? Wissen sie nicht. Und als sie des anderen Morgens gemeinsam in Lenglumés Bett die Augen aufschlagen, wechselt das Erwachen schnell von peinlich zu böse. Bis am Ende sogar ein Mord im Raum steht, den sie sich selbst im übrigen ohne weiteres zutrauen. Ihr einziges Bemühen während knapp anderthalbstündiger Stückdauer: Scheinbare Beweise vernichten, scheinbare Mitwisser beseitigen, schließlich sogar die Tötung des anderen ins Auge fassen.

Doch die Dinge in der Rue de Lourcine sind nicht so wie sie scheinen. Zumal sie sich an diesem Tag danach hauptsächlich in der Diffusität eines noch immer oder erneut alkoholintoxikierten Gehirns abzuspielen scheinen. Natürlich entschuldigt das nichts. Gedacht ist getan, und Lenglumé ebenso wie sein mistinguierter Trink-Bruder im Geiste erscheinen am Ende als äußerst zweifelhafte Stützen der Gesellschaft. Potard, einziger Verwandter, notorisch pleite und ewiger Bittsteller im Hause Lenglumé, vermag gegen den Schwager ebenso wenig auszurichten wie dessen Diener Justin oder Ehefrau Norine.

Raffinierter Bühnentechnikeinsatz

Gleich doppelt besetzt mit Tom Scherer und Susanne Schieffer ist in Bielefeld die Justin’sche Dienstbotenrolle. Besser lässt sich auf der raffiniert dreigeteilten Drehbühne die Allgegenwärtigkeit des Personals kaum darstellen. Beide tragen Kleider und aberwitzige Gardinenschleier vor dem Gesicht, wenn sie ihrem wenig geachteten Dienstherren auf ihre Weise so viel Schabernack-Schaden zufügen wie möglich.

Foto: Philipp Ottendörfer

Bühne und Kostüme stammen von Nicole Hoesli und Clemens Leander, die dunkle, melancholische, in starkem Kontrast zum slapstickhaften Bühnengeschehen stehende Musik von Theo Voerste, der zusammen mit Mattias Huser auch für die aus der Adlerperspektive eingespielten Videosequenzen zuständig ist. “Zoom-Zoom”, so ganz möchte die Produktion nicht vernachlässigen, in welcher Zeit sie aufgeführt wird. Das unterstreicht auch der von Sigrid Behrens neu aus dem Französischen gefasste und damit Elfriede Jelineks Übersetzung ablösende Text. Sätze ohne Enden, Kurzsprache, Andeutungen – ergänzen Sie sinnlos, scheint die Aufforderung zu lauten.

Worthülsenbrei und große Schauspielkunst

Insbesondere Nicole Lippold als Norine Lenglumé beherrscht die Kunst der angedeuteten Phrasendrescherei aus dem Effeff, und apropos dreschen: Bedeutet la glume im Französischen nicht die Spreu? Als Grande Dame in Silberlamé mit eigenem klitzekleinem Hang zum Likörchen und die Augenbraue in Dauerstellung hochgezogen, spielt Nicole Lippold die gutsituierte und lieber nicht zu viele Fragen stellende Norine mit umwerfender Hohlköpfigkeit. Ihr in lästiger Verehrung gegenübergestellt erscheint Oliver Baierl als Schwager Potard, der seine Figur mit wenigen Gesten als leicht gigolohaften Bückling mit Restprinzipien akzentuiert: Hände in den Hosentaschen, verschwörerisches Zungenschnalzen unterstreichen den Macho, Ernst im Blick und gesenkte Stimme sein standhaftes Eintreten für Ehe und Familie. Beeindruckend, wie Baierl das macht.

Foto: Philipp Ottendörfer

Überhaupt ist dieses Stück vor allem ein Fest der Schauspielkunst. Mit Alexander Stürmer als etwas grobschlächtiger Trinker Mistingue und Thomas Wehling als jäh aus seiner Selbstzufriedenheit gerissener Vertikalaufsteiger Lenglumé sind die Hauptrollen optimal besetzt. Allein dabei zuzusehen, wie diese beiden, die sich von Herzen nicht mögen, das so vertrackte wie beknackte Ritual zelebrieren, mit dem sich ehemalige Labade-Internatsschüler (“Labadenser”) begrüßen, ist zum langen Kichern komisch. Und wer in Ruhe studieren möchte, was ein Schauspieler ausschließlich mit seiner Mimik zur Sprache bringen kann, der findet in Thomas Wehling ein ideales Studienobjekt in diesem Stück. Von vollkommener Ausdrucksleere bis zu lebhaftester Regung findet sich in seinen Lenglumé-Zügen alles, was einem schuldunfähigen Menschen ins Gesicht geschrieben stehen kann, wenn er seinen Kopf aus der Schlinge noch eben zu retten versteht. Großartig!

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.