“Den Toten bewachen” ist ein außerordentlich schlicht gestalteter, kleinformatiger Gedichtband. Kaum größer als ein Notizbuch, verbergen sich hinter dem sachlichen Buchdeckel Gedichte von großer Sprengkraft. Es handelt sich um die bereits 1974 im französischen Original unter dem Titel “Garder le mort” erschienenen Gedichte von Jean-Louis Giovannoni.
Die archaische Angst vor den Toten wird in diesen sehr kurzen Gedichten ebenso wiederbelebt, wie der Scheu vor und der Trauer angesichts des toten Körpers ein trotziges Hinsehen entgegengesetzt wird.
Man merkt jedem einzelnen der Gedichte an, dass es Ausdruck einer gewaltigen Erfahrung ist. Dabei lässt sich die Direktheit mancher Verse
„man darf nicht zu lange warten
bis man ihn anzieht
wenn die kälte ihn schon
zu lange gepackt hat
riskiert man ihm die knochen zu brechen“
durchaus in zwei Richtungen lesen, auch den Lebenden packt die Kälte und er muss Dinge tun, Ritualen folgen, um sicher zu gehen, dass er am Verlust des gestorbenen Menschen nicht zerbricht. Den Toten zu bewachen und während dieser Wache Abschied zu nehmen, ist ein guter Ausgangspunkt, um in die Trauer zu gehen, während der man Stück für Stück ein Leben ohne diesen Menschen zusammensetzen muss.
Dass diese Gedichte jetzt auch dem deutschen Publikum zugänglich sind, ist Paula Scholemann und Christoph Schmitz-Scholemann zu verdanken, die die Übersetzung besorgt haben. Aber auch dem Elsinor Verlag, der seit 2006 auf „Seiten- und Nebenwegen“ der Literatur unterwegs ist. Bei diesen Streifzügen sind die Verleger:innen auf Jean-Louis Giovannonis “Garder le mort”-Zyklus gestoßen. Gedichte, der er im Alter von vierundzwanzig Jahren als Echo auf den Tod seiner Mutter geschrieben hat.
Der Ton der Gedichte ist nüchtern. Mitleidlos. Vielleicht liegt das u.a. an der Kürze. An der extremen Verdichtung. Da wird nichts beschönigt und umschrieben, sondern beobachtet und benannt.
„der gelbe körper sehr fahl
es ist nicht unserer
das ist es was man sich sagt“
Trotz all der Härte und Erbarmungslosigkeit beschränken sich die Gedichte nicht auf eine Aneinanderreihung von Beobachtungen, von denen manche nahezu anatomisch sind, vielmehr folgen sie einer Entwicklung. Es gibt unterschiedliche Etappen der Beobachtung.
„wenn man zugemacht hat
zugenagelt
kann man weiter leben“
Nach dieser Schonungslosigkeit werden die Gedichte milder. Ein versöhnliches Danach leuchtet auf:
„wir werden sie wiederbeleben
auf unsere art
ohne diese angst
ihr körper
wird weit weg sein
wir werden reden können
worte verwesen nicht“
Èric Vuillard hat ein sehr schönes Nachwort geschrieben, in dem er die Gedichte Giovannonis „vollkommen diesseitig“ nennt. Was sehr treffend ist, denn der Dichter sucht keinerlei Trost im Glauben, oder in der Metaphysik. Es ist fast eine Art mittelalterlichem Totentanzes, den der Autor mit seinen Gedichten weniger zelebriert als ausstellt. Oder in Vuillards Worten: „Es ist der gemeine Tod, den man uns zeigt, der ganz einfache, unreine, unwürdige Tod.“
Den Gedichten fehlt die „heilige Scheu“, und gerade das macht sie letztendlich tröstend. Die Sprache, die Giovannoni für den Tod findet, ist außerordentlich lebendig.
Jean-Louis Giovannoni
Den Toten bewachen – Garder le Mort
Gedichte

Deutsch von Paula Scholemann
und Christoph Schmitz-Scholemann
Nachwort von Éric Vuillard
Elsinor 2021
156 Seiten, Klappenbroschur, 16,00 Euro
ISBN 978-3-942788-57-1