Gedenken an Albrecht Stoll

Albrecht Stoll (Mitte) bei der Aufführung von "Mahogany", seiner eigenen Version der Kurt-Weill-Oper "Mahagonny"

Die Nachricht kam gänzlich unerwartet: Albrecht Stoll ist gestorben. Mitten aus dem schöpferischen Wirken gerissen, hinterlässt der Tod des Bielefelder Theaterschaffenden eine schmerzliche Lücke, nicht nur in den Reihen des Mobilen Theaters, dessen Gründer und treibende Kraft er bis zuletzt war. In Erinnerung bleibt ein von Musik, feinem Humor und kämpferischem Geist ganz durchdrungener Künstler, der uns besonders mit seinen bewegenden Kammeropern stille, bisweilen große Theatermomente geschenkt hat. Wir werden seine klare Präsenz vermissen, sind traurig mit seiner Familie und drucken an dieser Stelle gerne den Nachruf ab, den sein Sohn Sebastian Stoll für ihn verfasst hat:

Der Theaterrebell

Mit Stücken aus der Mitte der Gesellschaft wurde das Mobile Theater in Bielefeld bekannt. Sein Gründer Albrecht Stoll ist nun gestorben.

Albrecht Stoll (1945-2022)

Irgendwann in den Neunzigerjahren muss es gewesen sein, als mitten in einem Stück die Kulisse einstürzte.  Eine Schauspielerin hatte in einer Komödie ein Spinnenrequisit an einer Wand zerdrücken sollen und das mit einer derartigen Verve getan, dass die Wand ins Schwanken geriet. Die rettende Idee hatten ein paar Ensemblemitglieder, die gerade nahe der Bühne auf ihren Auftritt warteten: Sie gingen einfach schon mal in die Szenerie, stützten die Wand, und taten so, als müsse das so sein. Die Wand blieb stehen und das Stück ging weiter, irgendwie – unter schallendem Gelächter des Publikums.

Es ist diese Mischung aus Anarchie, Improvisationskunst und Verbündung mit dem Publikum, die das Mobile Theater auszeichnete. Gegründet hatte es Albrecht Stoll mit ein paar Kollegen und Kollegiaten des Oberstufenkollegs im Jahr 1978 – und zwar tatsächlich als im Wortsinn mobiles Theater: Eigene Räumlichkeiten gab es zunächst nicht, man spielte, wo es ging: in Jugendzentren, in Schulen, manchmal sogar unter freiem Himmel. Wo genau, das war eigentlich egal – denn es ging um das Wie: darum, Theater ganz anders anzugehen als es zu dieser Zeit in Bielefeld üblich war. Kein „Raub der Sabinerinnen“ und kein „Hamlet“, sondern Stücke, die sich mit der Rolle Bielefelds und seiner Bürger in der NS-Zeit auseinandersetzten oder den Konflikten seiner Zeit. Unerhört war das damals. In einer Zeit, in der niemand etwas von Nazis gewusst  haben wollte, wagte es Stoll gemeinsam mit Kollegen und Schauspielern, der Stadt den Spiegel vorzuhalten.

Mit den Jahren professionalisierte sich das Theater, fand zunächst eine Spielstätte in einem alten Fabrikgebäude, später im Theaterhaus in der Feilenstraße 4. Die Stadt hatte da schon längst ihren Frieden mit dem Theater geschlossen und dessen Platz in ihrem Herzen akzeptiert. Auf dem Spielplan standen nun etwa Stücke von Dario Fo, Artur Schnitzler, Moliere und Yasmina Reza: Klassiker wie zeitgenössische Autoren, verbunden durch einen spöttisch-subversiven Blick auf ihre Welt. Bei fast allen führte Albrecht Stoll Regie, in jedem war die von ihm komponierte Musik zu hören. Aus dem Rebellentheater der ersten Stunde war ein Musiktheater geworden, das die Rebellion nicht vergessen hatte. Es ging so weit, dass Stoll ganze Opern schrieb und inszenierte, etwa 2010 die Vertonung von Augusto Boals  „Mit der Faust ins offene Messer“.

Auch das gab manchmal Probleme. 2017 schuf Stoll eine eigene Version der Kurt-Weill-Oper „Mahagonny“: Viele Teile des Originalwerks hatte er bearbeitet und verändert, Eigenes hinzugefügt. Aus Weills Werk für ein großes Orchester wurde wieder  -wie ursprünglich-  ein Songspiel: „Mahogany“. Der rechteinhabende Verlag gestattete keine Bearbeitung und untersagte weitere Aufführungen. Sechs Stück blieben aber möglich, zu ihnen kamen die Zuschauer in Scharen – angelockt auch durch die Berichterstattung über den Rechtsstreit. Albrecht Stoll verbuchte das als großen Erfolg.

Die Anekdote zeigt, wie wichtig ihm in den späteren Jahren die Musik und das Musiktheater geworden sind. So wichtig, dass auch Stolls letztes Werk ein musikalisches war. „Die Beschaffenheit der Welt“ heißt das Musical, dessen Uraufführung das Mobile Theater für dieses Frühjahr angekündigt hatte. Wann es aufgeführt wird, ist unklar – sicher ist nur: Albrecht Stoll wird es nicht mehr erleben. Am Sonntag, den 3. April, ist er gestorben. Er wurde 77 Jahre alt.

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.