Gustav Vriesen und die Entdeckung der Moderne in Bielefeld

Sonia Delaunay, ohne Titel, 1958, Gouache, ca. 30x16,8 cm, Privatbesitz Foto: Ingo Bustorf

Eine Überschrift, die so klingt, als ob es vor Gustav Vriesen, der von 1954-1960 Direktor des Städtischen Kunsthaus war und dessen Verdiensten das Kunstforum Hermann Stenner nun eine bestechende Ausstellung widmet, keine Moderne – besser gesagt Klassische Moderne – in Bielefeld gegeben hätte. Natürlich war dem nicht so.

Aber die schändlichen Jahre des Nationalsozialismus hatten die bescheidenen Ansätze, die sich dazu in Bielefeld aufgetan hatten, erfolgreich verhindert. Erinnert sei z.B. an Willi Heiner, der 1932 aus der Provence zurückkam und zwischen 1933 und 1945 ein unverdächtiges Grafikbüro führte. Wie übrigens auch der Bielefelder Bauhauskünstler Wolfgang Tümpel.

Es lag also nach dem Ende der Blut-und-Boden-Unkultur der ‘Reichsschamhaarmaler’ so gut wie alles im Argen. Und dann engagiert die Stadt Bielefeld für ihr Städtisches Kunsthaus einen Mann, der allen Ernstes nicht nur die Klassische Moderne propagiert, sondern auch gleich noch Abstraktes und – horror vacui – Kunst vom Erzfeind aus Frankreich. Und es spricht doch für die damaligen Stadtväter, dass sie es akzeptierten.

Wer war dieser Mann, der nach dem Krieg die Klassische Moderne und internationale Kunst durchsetzte? Gustav Vriesen, geboren 1912 in Essen. Der Vater ist Mittelschullehrer. 1931 beginnt er ein Studium der Kunstgeschichte, Architektur und Germanistik in München. Er promoviert 1935 mit einer Arbeit über den Maler Georg Friedrich Kersting (1785 – 1847), der mit Caspar David Friedrich befreundet war und als Romantiker sich zu einem der bedeutendsten Interieurmaler des Biedermeier entwickelte. Sein Doktorvater Wilhelm Pinder war gern Nationalsozialist, was natürlich auch Auswirkungen auf seine Doktoranden hatte. Zumindest auf die Texte, die sie bei ihm schrieben.

Nach einem Volontariat in Lübeck geht Vriesen 1936 an das Oldenburger Landesmuseum, wo er bis 1954 bleibt, unterbrochen von vier Jahren Kriegsdienst. Außerdem leitet er den Oldenburger Kunstverein. Seine  Ausstellungen, die in Oldenburg nicht ungeteilte Zustimmung finden, strahlen allerdings aus bis Hamburg. Der dortige Kunsthallenleiter, Carl Georg Heise, lobt 1950 in einem Brief seine „niemals erlahmende Initiative“ für gute, moderne Kunst. Die Bielefelder Stadtväter waren also vorgewarnt.

Arg mitgenommenes Kunst-Erbe

Die Begrüßung in der Freien Presse am 14.1.1955 sprach von einem Steinbruch an Arbeit, der vor Gustav Vriesen lag: „Vriesen tritt arg mitgenommenes Erbe an. Kulturleben erwartet von ihm neue Impulse.“ Wie arg mitgenommen das Erbe war, lässt sich z.B. daran erkennen, dass es seinerzeit nur mit Mühe gelang, den in der Nazizeit sehr aktiven Städtischen Musikdirektor Hoffmann von dem mit einem ‘Persilschein’ zurück errungenen Posten wieder zu vertreiben.

Die andere Schwierigkeit war natürlich der Etat. Vriesens Vorgänger Heinrich Becker hatte – schwankend – zwischen 2 000 bis 10 000 DM zur Verfügung. Im Vorfeld der Verpflichtung Vriesens hatte es Diskussionen um eine Neuordnung der Bielefelder Museumslandschaft gegeben. Bei Andreas Bootz „Kultur in Bielefeld 1945 – 1960“ kann man nachlesen, dass Vriesen zweite Wahl war und nur aufgrund der Arroganz des Ersterwählten zum Zuge kam. Hätte man im ansonsten wirklich guten Katalog durchaus erwähnen müssen. Ebenso kann man bei Bootz nachlesen, dass mit Vriesens Ernennung der Anschaffungsetat bei 40 – 50 000 DM angesiedelt wurde. Damit war natürlich schon mehr anzufangen als zu Beckers Zeiten.

Schaut man sich die Liste der Ausstellungen an, die Vriesen in seiner kurzen Zeit hier in Bielefeld realisierte, kann man über die Bandbreite nur staunen. In der Ausstellung im Stenner-Forum sind verständlicherweise nur die Highlights präsentiert.  Und daran kann man sich kaum satt sehen. Ob nun Handzeichnungen von Hokusai oder Bielefelder Künstler, die er immer wieder  mit Ausstellungen bedachte, gern auch erweitert auf ostwestfälische Künstler – Vriesen fand auch schon damals gewissermaßen Außenseiter. Z.B. Carl Strüwe – ein Fotograf, der 2012 in der Kunsthalle gefeiert wurde – 1956 war er schon zu betrachten.

Wiederentdeckung des früh verstorbenen Expressionisten Hermann Stenner

Ein Schwerpunkt im gleichen Jahr war die Ausstellung zu Hermann Stenner. Vriesen verstand ihn als einen „verschollenen Wert“, der der Kunstwelt zurückgegeben werden muss. Versteht sich, dass Stenner in der Ausstellung dementsprechend gewürdigt wird. So ist z.B. zum ersten Mal das Selbstbildnis Stenners als 17-jähriger zu sehen. Und als besonderes Highlight „Der weiße Knabe“ von 1914.

Vriesens Hauptinteresse galt damals August Macke. Eine erste Ausstellung mit Werken von ihm hatte er schon 1948 in Oldenburg organisiert. Und schon da die Mühe auf sich genommen, mit den Nachlassverwaltern – der Ehefrau Elisabeth Erdmann-Macke und dem Sohn Wolfgang Macke – in intensiven Kontakt zu treten. Daraus entstand eine sehr enge Bindung mit dem Erfolg, dass Vriesen umfangreich mit Material für einen Katalog versorgt wurde. Das 1953 erschienene Buch fand Anerkennung in der Fachwelt und gilt auch heute noch als Standardwerk. Zeitgenossen galt das Werk als „schönste deutsche Malerbiografie“ bzw. „Es ist genau der Typ von Monographie, wie wir sie brauchen für die Grossen der expressionistischen Epoche.“ Solche Worte darf man durchaus als Adelsprädikat aus der Zunft auffassen.

August Macke, Indianer, 1911, Öl auf Leinwand, 200×150 cm, Privatbesitz, Foto: Ingo Bustorf

Macke war Vriesen so wichtig, dass er 1953 eine Ausstellung sogar in den Niederlanden organisieren konnte. Kunst als Eisbrecher im ehemals deutsch besetzten und malträtierten Nachbarland. Aber für Macke rieb Vriesen sich nahezu auf. Gegen den Trend der Nachkriegskunsthistoriker, die um jeden Preis die abstrakte Malerei propagierten, mühte er sich, den Nachweis zu führen, dass man Mackes Werk nur vor dem Hintergrund der französischen Malerei, etwa den Impressionisten verstehen könne. Tanja Pirsig-Marshal legt das im Katalog schlüssig dar, freilich nur im Ansatz, weil die Recherchen dazu jetzt erst beginnen.

Wettstreit um August Macke

Interessant ist, dass es zu Beginn der 1950er Jahre eine Art Wettkampf um die Deutungshoheit des Mackeschen Werkes zwischen Bielefeld und Münster gibt. Münster gewann diesen Wettkampf, weil die damaligen Direktoren des Landesmuseums Münster, Walther Greischel, Carl Bänfer und Hans Eichler, systematisch den Nachlass August Mackes aufkauften. Da konnte Vriesen natürlich nicht mithalten. Christof Wagner scheut sich nicht, im Katalog davon zu sprechen, dass sich die Wiederentdeckung der Moderne in der Nachkriegszeit im „räumlichen Kräfteparallelogramm Bielefeld – Münster – Meschede in einem direkten personalisierten und räumlichen Wettbewerb der Museumsinstitutionen an beiden Orten, die miteinander um die Auseinandersetzung mit dem Oeuvre des im Ersten Weltkrieg früh verstorbenen August Macke, dessen Geburtsort Meschede in Nordsauerland von beiden Städten jeweils nur rund neunzig Kilometer entfernt liegt, konkurrieren.“ Bei der Macke-Gedenkausstellung 1957 in Münster hält Vriesen die Eröffnungsrede.

Aber mindestens ebenso  aufregend war die Ausstellung mit Werken von Sonia Delaunay. Das muss man sich quasi auf der Zunge zergehen lassen: 1958 organisiert Vriesen eine Ausstellung mit Kunst vom „Erzfeind“; und dann auch noch Kunst einer Frau. Das war schon sehr mutig. Er ist freilich nicht der Einzige, der Frankreichs Kunstszene in Deutschland bekannt machen will. Weiter westlich – in Recklinghausen – arbeitete der dortige Leiter der Kunsthalle, Thomas Grochowiak, am gleichen Thema, ab und zu auch im Rahmen der Ruhrfestspiele. Das erzählt davon, dass der Kompass der damaligen Kunst sich in Richtung Frankreich eingenordet hatte.

Gustav Vriesen und Sonia Delaunay

Gustav Vriesen hatte Sonia Delaunay durch seine Forschung zu Robert Delaunay, 1885 – 1941, kennen und schätzen gelernt. Von 1957 bis 1959 arbeitete er mit Sonia Delaunay den unveröffentlichten Nachlass ihres Mannes auf. Kurz vor der Veröffentlichung stirbt Vriesen jedoch. Erst 1967 gibt der in Bochum lehrende Kunsthistoriker Max Imdahl diesen Text mit Ergänzungen heraus. Es spricht für Vriesens Qualität, dass 1992 und 1995 herausgegebenen Neuauflagen „nur“ noch Vriesens Text erscheint. Das erhebt diese Ausgabe in den Rang eines Standardwerkes zu Robert Delaunay. Aus dieser Zusammenarbeit heraus entsteht der Plan einer Ausstellung mit Werken Sonia Delaunays in Bielefeld. Es war die erste größere Überblicksausstellung Sonia Delaunays in Deutschland.

Sonia Delaunay und Gustav Vriesen anlässlich ihrer Ausstellungseröffnung in Bielefeld 1958 Foto: Nachlass Gustav Vriesen

Die Künstlerin war damals schon 73 Jahre alt. Vriesen feierte zu der Zeit „die Befreiung der Farbe“ und betont den Einfluss des Ehepaares Delaunay in der Vorkriegszeit– also vor 1914 – auf deutsche Künstlerinnen und Künstler, z. B. beim Blauen Reiter. Und er schlägt eine Brücke zu Paula Modersohn-Becker, deren Radikalität und Konsequenz im Ansatz erst sehr viel später gewürdigt wurde. Und nicht nur über Sonia Delaunay, sondern ebenso über Paula Modersohn-Becker und weitere Künstlerinnen der damaligen Zeit sagt Vriesen: „Es gilt nicht nur für diese Dinge, sondern auch für die bemalten >Objets< die Stoffentwürfe, Stoffe, Moden usw. ihrer späteren Zeit, wenn ich sage, dass diese gesamten Tätigkeiten nicht zu verstehen sind, als eine Art Vielseitigkeit kunstgewerblicher Begabung, sondern als grandioser Versuch, die gesamte menschliche Umwelt von einem Zentrum her, aus einer farbigen Vision zu verändern und zu gestalten.“ Nochmal: Das sei keine Art Vielseitigkeit kunstgewerblicher Begabung, betont Vriesen. Und das 1958. (Dezenter Hinweis: Damals durften Frauen nur mit Genehmigung ihrer Ehegatten arbeiten gehen oder z.B. ein Konto eröffnen). Selbst in einem Kunsthaus dürfte Vriesens fortschrittliche Einschätzung zur damaligen Zeit also starker Tobak gewesen sein.

Die Detmolder Künstlerin Hedwig Thun

Doch damit nicht genug. Wie schon bei den bisherigen Ausstellungen erweist sich das Stenner-Forum erneut als Wundertüte. Man geht hinein und weiß nicht, was einen erwartet. Zu all den aufregenden Dingen, die Gustav Vriesen in seiner kurzen Zeit in Bielefeld angestoßen hat, kommt nun noch die Wiederentdeckung einer Detmolder Künstlerin, Hedwig Thun (1892 – 1969), die es vom Bauhaus zum Informel „geschafft“ hat. Obendrein gibt es noch eine Verbindung zu Gustav Vriesen. Die ist allerdings sehr versteckt. In einem Gästebuch Hedwig Thuns findet sich ein Brief Vriesens, in dem er der Künstlerin Mut macht, einer Ausstellung im Frankfurter Kunstkabinett von Hannah Bekker vom Rath zuzustimmen.

Herausgeberin Christiane Heuwinkel vermutet im Vorwort zum Katalog über Hedwig Thun, in diesem Brief könne man den Hinweis „auf ein mögliches gemeinsames Ausstellungsprojekt, das nicht mehr zustande kam“, sehen. Bemerkenswert: nicht im Hedwig-Thun-Katalog ist der Brief wiedergegeben, sondern im Hauptkatalog zu Gustav Vriesen. Und da ist nicht unbedingt zu lesen, dass Gustav Vriesen sich mit dem Plan einer Ausstellung mit Hedwig Thuns Werken beschäftigte. Gut 10 Jahre nach Vriesens Tod wird eine Ausstellung in der Studiengalerie der damals noch recht neuen Kunsthalle eröffnet. Diesmal jedoch ereilt die Künstlerin der Tod wenige Tage vor der Eröffnung.

Hedwig Thun, Signata, 1959/60, 100×75 cm, Privatbesitz Foto: Ingo Bustorf

Aus den bisherigen Rudimenten ihres Lebenslaufs ergibt sich, dass sie zunächst Krankenschwester war, bevor sie sich der Malerei zuwandte. Bei Wikipedia liest man weiterhin, dass Richard Riemerschmid sie an die Debschitz-Schule empfahl. Wie sie an Richard Riemerschmid kam? Bis jetzt unbekannt. Ebenso die Lehrer Schinnerer und Eberz, bei denen Hedwig Thun an der Debschitz-Schule gelernt haben soll. In Dagmar Rinkers Standardwerk über „Die Lehr- und Versuchs-Ateliers für angewandte und freie Kunst“, so die offizielle Bezeichnung, die nach einem ihrer Gründer, Wilhelm von Debschitz, Debschitz-Schule genannt wurde, tauchen die beiden genannten im Namensverzeichnis nicht auf.

Aber Bauhaus stimmt. In dessen letzter Phase in Dessau studierte sie bei Wassilij Kandinsky, dessen Lehre ihr am meisten liegt, wie man in ihrem Katalog nachlesen kann. Sie vollzieht einen Schritt näher auf die Abstraktion zu. Die Machtübernahme der Nationalsozialisten lässt sie gewissermaßen erstarren. Sie wendet sich der Literatur zu und veröffentlicht 1935 unter dem Pseudonym H. S. Thielen einen Roman über Engelbert Kaempfer (1651 – 1716).  Kaempfer stammte aus dem nahen Lemgo, hatte von 1683 – 1693 unter anderem Japan bereist und Forschungsberichte veröffentlicht, die höchste Anerkennung fanden. Für Hedwig Thun gewissermaßen innere Emigration. Der Titel klingt vielversprechend: „Der Medicus Engelbert Kämpfer entdeckt das unterhimmlische Reich.“ Wie oder was bitteschön ist unterhimmlisch? Da wartet man doch auf eine kommentierte Neuherausgabe. Bei booklooker, amazon oder zvab findet man antiquarische Ausgaben.

Doch ausgefüllt hat Hedwig Thun das Schreiben nicht. Anfang der 1940er Jahre fängt sie wieder an zu malen. Noch sehr gegenständlich. Der große Umschwung kommt in den 1950er Jahren. Nicht nur stilistisch. Auch das Format ändert sich. Und waren die Aquarelle der 1940er Jahre im „farblosen Grau der Erschütterung“ gehalten, werden ihre Werke nun „farben- und ausdrucksstark und zeichnen sich durch den pastosen Farbauftrag von einer spezifisch plastischen Präsenz und farbmateriellen Struktur aus“, wie man im Katalog nachlesen und vor allem auch nachschauen kann.

Ist schon die titelgebende Ausstellung über Gustav Vriesen eine anregende Kunstreise in Bielefelds Nachkriegszeit, in der man sich verlieren kann, so ist die zusätzlich gewonnene Sonderausstellung mit Werken Hedwig Thuns ein Bonbon der Extraklasse. Hingehen. Anschauen.

Die Ausstellungen “Gustav Vriesen und die Entdeckung der Moderne in Bielefeld” sowie “Hedwig Thun: Eine Wiederentdeckung” sind noch bis zum 4.9.2022 im Kunstforum Hermann Stenner (Obernstraße 48) zu sehen. Öffnungszeiten: Mi,Do, Fr: 14-18 Uhr, Sa+So: 11-18 Uhr. Weitere Informationen:

www.kunstforum-hermann-stenner.de

Autor*in: Uli Schmidt

Seit langem bekannt als "Der Kulturbote" aus Ostwestfalen: So empfängt Uli Schmidt heutzutage seine Gedankenblitze.