Der erste Sohn

Thomas Brasch (1945-2001) - Seine Schwester Marion Brasch zeichnete in der Uni Bielefeld anhand von Filmmaterial und (nie abgeschickten) Briefen ein berührendes Bild des Lyrikers, Dramatikers und politischen Denkers Fotos: Antje Doßmann

Seit im vergangenen Jahr ein prominent besetzter Spielfilm über ihn in die Kinos kam, erfreut sich der deutsch-deutsche und dadurch existentiell in das Getriebe beider Staaten geratene Lyriker und Dramatiker Thomas Brasch wachsender Bekanntheit und Beliebtheit. Das heißt, seine Angehörigen, die Nachgeborenen dürfen sich stellvertretend für ihn über diesen Nachruhm freuen, während von dem 2001 gestorbenen Poeten anzunehmen ist, dass er selbst über Andreas Kleinerts Film “Lieber Thomas” gar nicht so besonders froh gewesen wäre. Denn Einblicke in seine Familiengeschichte waren ihm ein Graus. Zumindest zu Lebzeiten.

Das weiß seine Schwester Marion Brasch zu berichten, die 16 Jahre nach ihm zur Welt kam und die als einzige der vier Brasch-Geschwister noch am Leben ist. “Die Brave, die Angepasste”, wie sie sich selbst bezeichnet, auch die am “weitaus wenigsten Talentierte der Familie”. Sätze, die wehtun würden, hätte die filmische Lesung, mit der die Medienjournalistin seit einiger Zeit unterwegs ist, nicht den Fokus so deutlich auf den Bruder Thomas gelegt und käme dieser Fokus nicht so nachdrücklich von ihr selbst.

Bewahrung des Bruders: Marion Brasch bei ihrer filmischen Lesung über den leidenschaftlichen Künstler Thomas Brasch in der Uni Bielefeld

Sie mache diese Erinnerungsarbeit, sagte sie in der Uni Bielefeld, wo die Veranstaltung mit ihr im Kontext der diesjährigen Literarischen Schreibwerkstatt unter der Leitung von Wolfgang Braungart zum Thema “Familiengeschichten” am vergangenen Freitagabend den Hörsaal mühelos füllte, auch für die nächste Brasch-Generation. Selbst wenn es für diese vorerst nur einen finanziellen Nutzen durch gesteigerten Buchverkauf bedeuten würde, der den Verlust eines lange vor seinem Tod für andere oft abwesenden Vaters natürlich nicht wettmachen könne. Die Frage aber, wer der Vater war und zwischen welchen Polen dieser sich zerrieben hat, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit früher oder später auch seinen eigenen Kindern unter den Nägeln brennen. So wie es bei Thomas Brasch selbst der Fall war mit dem eigenen Vater. Und die Folgen, das wissen wir, waren einschneidend, nein: verheerend.

Eltern haben, an die es kein Heranreichen gibt

Thomas Brasch also. 1945 geboren im englischen Exil als erster Sohn jüdischer Emigranten, die 1947 bewusst in die sowjetische Besatzungszone übersiedelten, wo der Vater, Horst Brasch, aufstieg in die Nomenklatura der DDR, es bis zum stellvertretenden Minister für Kultur brachte. Eltern, an denen sich Thomas Brasch Zeit seines Lebens abarbeiten würde, stellvertretend für eine Generation nicht gleichberechtigt zu Wort gekommener Söhne und Töchter.

Eltern, auf die Brasch grundsätzlich stolz war und deren Schicksal ihn tief bewegte. Eltern, deren Ideal von einer sozialistischen, antifaschistischen Gesellschaft er ja teilte bis zuletzt, an dessen geschichtlicher Verwirklichung er jedoch immer mehr Fragen hatte, je älter er wurde. Und im Grunde hat der Vater, der ihn 1956, im Alter von 11 für vier Jahre nach Naumburg an die Kadettenschule der NVA schickte, seinen Weg als späteren “Ruhestörer” vorgezeichnet. So viel scheint heute, im Nachhinein, klar.

Die Nabelschnur, die die Kehle zudrückt, durchreißen

Braschs immer leidenschaftliches, immer engagiertes künstlerisches, auch aktiv politisches, mit Gefängnisaufenthalt und “Bewährung in der Produktion” bezahltes Aufbegehren gegen eine Generation, die die am eigenen Leib erfahrene Unterdrückung und Verfolgung später nicht in liebevolle Offenheit gegenüber dem Nachwuchs übersetzte, sondern mit dem Gestus moralischer Überlegenheit und erziehungsdiktatorischen Maßnahmen auf Kritik reagierte, begann früh und mündete in seine Ausreise in den Westen 1976 an der Seite Katharina Thalbachs.

Im tendenziell revanchistischen Westen gefeiert, missverstanden, bis annähernd vorgeführt wie bei der Verleihung des Bayrischen Filmpreises, konnte er nirgends wirkliche Heimat finden. Die Wahrheit war an sich schlicht: Er liebte sein Heimatland, die DDR, aber nicht die Zustände, die dort herrschten. So dass sich die Widerstände, die er brauchte, um zu schreiben, um zu schöpfen und die er in der Bundesrepublik nicht finden konnte, mehr und mehr ins eigene Innere verlagerten. Bis er, aufgerieben, vergiftet und entkräftet von den immer gigantischer sich vor ihm auftürmenden Werkideen im Alter von nur 56 Jahren an Herzversagen starb.

Für den Film “Engel aus Eisen” bekam Thomas Brasch 1982 den “Bayrischen Filmpreis” – Franz Josef Strauß parierte Braschs Seitenhieb gegen ihn und dessen anarchische Dankesrede mit dem giggelnden Hinweis auf die “Libertas Bavariae”
Das Feuer weitergeben

Marion Brasch zeichnete in ihrer von tiefer, inniger, wenngleich zerrissener Liebe zum großen Bruder zeugenden multimedialen Lesung anhand von persönlichen Dokumenten, Interviews und archivierten Filmsequenzen das Leben eines Menschen nach, der bis heute elektrisiert. Woran liegt das? Da ist natürlich zum einen die grundsätzliche Dramatik seiner Herkunft aus einer von den Nazis verfolgten Familie, deren männlichen Nachkommen es nicht vergönnt war, ein langes Leben zu führen.

Aber da ist auch seine in den Aufnahmen noch immer spürbare Präsenz, seine Art zu schauen und zu sprechen, die gesamte äußere Erscheinung, das Aussehen, dieses nouvelle vague-Filmgesicht. Und dazu seine Texte, die in ihren schönsten Momenten französische Poesie und amerikanischen Protestsong verbanden und dann unterm Strich Ausdruck einer Persönlichkeit waren, der etwas anhaftete, das man selbst nach über 20 Jahren Leben im westlichen Teil des Landes noch als Ost-Charisma bezeichnen konnte.

Und da ist diese Überlebende, das Nesthäkchen, die kleine Schwester, Marion Brasch, die nun in Vorträgen von ihrer Familie, den Braschs erzählt, aus der sie erklärtermaßen keinen Tragödien-Stadl machen möchte. Insbesondere ihren Bruder Thomas will sie – so viel wurde bei ihrem Vortrag deutlich – im richtigen Licht erscheinen lassen. Als einen, der an eine bessere Gesellschaft geglaubt hat und an die Rolle, die Kunst und Kultur, Poesie und Theater und Musik dabei spielen sollten. Und weil er sich auf dem Weg zu dieser Überzeugung permanent an der Vatergeneration messen musste und immer tragischer an diesem Anspruch scheiterte, war es am Ende echtes, für Menschen, die ihm nahestanden, mit Sicherheit nicht leicht zu ertragendes Pathos, das ihn umgab.

Tatsache bleibt, dass einer wie Thomas Brasch posthum heute viele berührt. Vielleicht, weil Menschen, die wie Kerzen an beiden Enden brennen, selten geworden sind.

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.