Die Erschöpfung des Menschen

Die Veranstaltungsreihe "miteinander gegenüber" in der Bielefelder Kunsthalle bringt die Tänzerin Noriko Nishidate in den Grenzbereich von Annahme und Zurückweisung eines Kunstwerks. Fotos: Antje Doßmann

Was macht ein Kunstwerk bedeutsam, wenn nicht seine Kraft , das Geschaffene so lebendig zu erhalten, als wäre der Impuls, der ihm zugrunde lag, gerade erst in die Welt gesetzt?

Zum Beispiel Oskar Schlemmers Wandrelief “Drahtfigur Homo mit Rückenfigur auf der Hand” , 1930/31 entworfen und als Abguss Teil der Sammlung der Kunsthalle Bielefeld. Eine komplexe, sich auf mehreren Ebenen mit dem Thema Mensch und Kunstfigur auseinandersetzende Konstruktion, die noch immer dazu einlädt, sich in der Körper-Bild-Sprache des Bauhaus- Künstlers selbst zu positionieren. Und daher hervorragend geeignet für das produktive Format “miteinander gegenüber”, das die Kunsthalle seit einigen Jahren mit spannenden Resultaten etabliert hat. Die Idee dabei: Kunst mittels Kunst neu zu beleuchten.

Noriko Nishidate, seit der Spielzeit 2015/16 Mitglied von TANZ Bielefeld, nahm sich in diesem, Schlemmers Fall, der Sache an. Dies lag auf der Hand, hatte der Künstler sich doch Zeit seines Lebens und Schaffens beschäftigt mit dem Tanz und seiner Möglichkeit, figürlichen Ausdruck auf der Bühne als Menschheitstheater zu versinnbildlichen. Und wenngleich Nishidates multimediale moderne Tanz-Performance KUNSTFIGUR/VERKÖRPERT Part 1 im Vergleich zu Schlemmers Figurinen, die er in seinem legendären “Triadischen Ballett” zum Einsatz brachte, beinahe konventionell wirkte, so brachte die Tänzerin in ihrer Choreographie mit intelligenter, sensibler Präzision jedoch genau die Fragen auf den Punkt, die heute relevant erscheinen im Kontext des Reliefs.

Was sagt uns Schlemmers Kunstfigur vom Menschen, der für ihn “Maß und Mitte” war, heute? Finden wir knapp hundert Jahre nach ihm jene Anmut wieder, die er sich erhofft hat vom neuen, mechanisch erschaffenen Menschen?


Vereinen sich in seiner Kunstfigur, Bewohner einer zunehmend technisierten Welt, tatsächlich Mathematik und Metaphysik, Konstruktion und Intuition, irdischer Fortschritt und kosmische Zeitlosigkeit, um dem Wahnsinn und der Willkür menschlichen Handelns endlich Einhalt zu gebieten? Die Antwort in einer von Kriegen und Krisen geprägten Weltwirklichkeit muss zwiespältig ausfallen, allemal, und sie tat es.

Konstruktion und Intuition: Szene aus Nishidates multimedialer Tanz-Performance KUNSTFIGUR/VERKÖRPERT
Wie ferngesteuert wirkendes Angezogensein

Denn Noriko Nishidates berührende Performance bewegte sich im Grenzbereich von Annahme und Zurückweisung des Kunstwerks, Schlemmers ureigenem Bedürfnis nach Synthese und Harmonie folgend und es zugleich brechend. In gewisser Weise näherte sich ihre in zwei Teile fallende Choreographie der Drahtfigur an, um sich von ihr zu entfernen. Zu erleben war zunächst ihr mechanisches, puppenhaftes und wie ferngesteuert wirkendes Angezogensein von Schlemmers Relief. Dann ihr heilloses Hineingeraten in den maschinell-demiurgischen Schöpfungsprozess, während im Hintergrund ein Metronom stoisch den Takt vorgab, obwohl ihr schwingender Reifrock, der sie (kon)figurierte, mehr und mehr auf den Kopf gestellt wurde. Schließlich ihr Heraustaumeln und verunsichertes, erschöpftes, aber immerhin wieder ganz Mensch gewordenes Agieren zum Schluss. Atmen, nach Luft schnappen, keuchend am Leben sein.

Bewegend. Nachdenklich stimmend. Großartig durchdacht und künstlerisch bearbeitet! Man darf gespannt sein auf Part 2 der Performance, der am 22. und 23.September in der Kunsthalle Bielefeld folgen wird. Dann in einer Zusammenarbeit von Noriko Nishidate mit Carla Bonsoms i Barra.

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.