Die Brücke trägt nicht mehr

Die Schriftstellerin im Garten des Guts Böckel. Fotos: Hertha Koenig-Gesellschaft / Deutsches Literaturarchiv

Die Hertha-Koenig-Gesellschaft löst sich auf. Ein Nachruf auf die Institution, die sich in Ostwestfalen drei Jahrzehnte lang um Literarisches verdient gemacht hat.

Die Brücke trägt nicht mehr von dir zu mir.“

>Die Brücke< von Hertha Koenig

Vielleicht passt ja auch „Die müden Wege sind im Schlaf entglitten“ aus dem Gedicht >Verfallener Garten<.

Neulich erzählte mir eine Freundin von dem seltsamen Vorgang, dass der Vorstand der Hertha-Koenig-Gesellschaft die Auflösung des Vereins beschlossen hatte. Und damit das alles relativ unkompliziert über die Bühne gehen kann, erhielt jedes Mitglied einen Brief mit der vorformulierten Kündigung zur Unterschrift. Von wegen unkompliziert. Ohne juristische Hilfe wäre das Vorhaben vermutlich schief gegangen. Es ist zwar sehr einfach, einen Verein zu gründen – man braucht nur sieben Mitglieder und eine Satzung, dann geht’s zur Anmeldung beim Amtsgericht und wenn die Satzung rechtlich stimmt, war’s das.

Aber die Auflösung! Alle Mitglieder müssten per eingeschriebenen Brief eingeladen werden zu einer außerordentlichen Versammlung mit dem einzigen Tagespunkt der Auflösung. Zu dieser Versammlung sollten 75 Prozent der stimmberechtigten Mitglieder erscheinen. Tun sie dies nicht, müsste erneut eingeladen werden. Von den dann erschienen Mitgliedern müssten wiederum 75 Prozent für die Auflösung stimmen. Bei ca. 300 Mitgliedern eine vermutlich unlösbare Aufgabe. Was also tun? Der Vorschlag eines mittlerweile zu juristischer Beratung hinzugezogenen Anwaltes: alle Mitglieder müssen individuell – jede, jeder für sich – den Austritt schriftlich erklären. Der Vorstand geht dann mit den gesammelten Briefen zum Amtsgericht und erklärt vor dem Rechtspfleger die rechtsverbindliche Auflösung der Gesellschaft mangels Mitgliedern. So soll’s jetzt laufen.

Für wen wird dieser nicht unerhebliche Aufwand eigentlich betrieben? Wer wird dann vermutlich nur noch in Bibliotheken und in dem einen oder anderen Bücherschrank vor sich hin schlummern?

Schriftstellerin, Gutsbesitzerin, Kunstsammlerin, Mäzenin.

Also: Hertha Koenig war Schriftstellerin, Gutsbesitzerin, Kunstsammlerin, Mäzenin sehr alter, aber sehr guter Schule. Geboren 1886 auf Gut Böckel im Kreis Herford, ebenda gestorben 1976, hat sie ein Leben geführt, das zwar im Westfälischen begann und endete, aber keineswegs nur dem Gutsleben dieser Region verschrieben war. An dem ersten Buch aus dem Pendragon Verlag, das Hertha Koenig gewidmet ist, lässt sich das zeigen. Joachim W. Storck, renommierter Rilke-Forscher, gab 1992 „Hertha Koenig : Erinnerungen an Rainer Maria Rilke“ heraus. Vorgestellt wurde das Buch auf Gut Böckel.

An der Person Rainer Maria Rilkes lässt sich alles zeigen. Die beiden lernen sich 1910 auf ein Fest im Fischer Verlag kennen, der damals in Berlin residierte. Ihr erster Gedichtband, Sonnenuhr, sollte in der Beckschen Verlagsbuchhandlung erscheinen. Nicht dass von Anfang an die Funken sprühten – wenn überhaupt – schließlich war Hertha Koenig zu diesem Zeitpunkt mit dem Literaturprofessor Roman Woerner verheiratet, aber aus dieser Begegnung entwickelte sich eine intensive Freundschaft.

So empfahl Rilke 1914 seiner Gönnerin den Kauf eines Picasso-Gemäldes: Les Saltimbanques, wohl wissend, dass sie über das Geld dafür verfügte. 1915 war er einige Zeit Gast in ihrer Wohnung in München in der Widenmayerstraße, sich als „Wächter am Picasso“ gerierend, während sie auf Gut Böckel wohnte. Als sie zurückkehrte nach München, suchte er sich eine andere Wohnung. Interessant, dass Rilke zwar über wirklich wenig Geld verfügte, aber eine Haushälterin beschäftigte, deren Kochkünste ihm freilich nicht behagten. Interessanterweise brachte Rilke mit seinen Münchner Bekanntschaften Leben in Hertha Koenigs Wohnung. Er kannte unglaublich viele Künstler in München. Und die Mäzenin ließ ihn gewähren, wenn er gewissermaßen Einladungen aussprach zu ihren Abendveranstaltungen. So kamen u. a. auch Georg Schrimpf und Oskar Maria Graf in die Widenmayerstraße.

1917 war Rilke einige Monate sogar Gast auf Gut Böckel. Die Ruhe und Abgeschiedenheit gefielen ihm sehr, weniger allerdings die häufigen Regenfälle.

Für sein ausgeprägtes Ruhebedürfnis wurde ihm im Turm des Gutes, später Rilke Turm genannt, ein Zimmer hergerichtet. Die Fünfte seiner >Duineser Elegien<, geschrieben auf das Picasso-Gemälde >Les Saltimbanques< „Wer aber sind sie, dieFahrenden…“ ist Hertha Koenig zugeeignet. Aber nicht nur Rilke war auf Gut Böckel Gast, ebenso zeitweise Mynona mit Familie, die erste Ehefrau von Raoul Hausmann, Elfriede Hausmann mit Tochter und Emanuel Bin-Gorion. Soviel zum Mäzenatentum dieser außergewöhnlichen Frau.

Preisträgerinnen preisen ihre Favoritinnen

Zurück zum Jahr 1992. Im Jahr zuvor hatte Dr. Ernst Leffers das Gut erworben. Nach und nach wurde es behutsam restauriert und renoviert. In Erinnerung an die kulturelle Bedeutung wurde 1994 die Hertha-Koenig-Gesellschaft gegründet. Erstes Ziel war die Herausgabe der Werke Hertha Koenigs, die mit dem Buch von Joachim W. Storck 1992 begann. 2013 war mit >Die helle Nacht< der Schlusspunkt gesetzt. Aber damit war nur ein Aspekt, wenn auch der wichtigste, erfüllt.

Seit 2004 wurde auf Initiative von Dr. Ernst Leffers und von ihm gestiftet der Hertha-Koenig-Literatur-Preis vergeben, mit 4 000 € dotiert und nur für Schriftstellerinnen. Erste Preisträgerin war Irina Korschunow. 2006 war Ulla Hahn die zweite Preisträgerin. Seit damals durfte die jeweilige Preisträgerin einen mit 1 000 € dotierten Kleinen Hertha-Koenig-Preis verleihen. Ulla Hahns Wahl fiel auf Almuth Sandig. 2008 erhielt Jenny Erpenbeck den Preis, sie erwählte Susanne Stephan,

Interieur auf dem Gut in Rödinghausen, historische Aufnahme.

2011 bekam Alissa Walser den Preis, sie adelte Nadja Einzmann. Angelika Klüssendorf wurde 2014 ausgezeichnet. Sie hielt Christiane Neudecker für würdig. Die letzte Preisträgerin wurde 2017 Nino Haratischwili, ihre Wahl fiel auf Lina Atfah. Für 2020 gibt es keinen Eintrag mehr. Die Pandemie lässt grüßen.

Aber allein mit der Vergabe des Hertha-Koenig-Preises waren die Aktivitäten auf Gut Böckel nicht erschöpft. Immer wieder fanden z. B. Veranstaltungen von Wege durch das Land statt. Konzerte mit namhaften Orchestern wurden ebenso veranstaltet. Aber das nur nebenbei.

Sicherlich hat die Pandemie stark mitgeholfen, dass die Hertha-Koenig-Gesellschaft sich auflöst. Aber das allein war bzw. ist es nicht. Mitentscheidend war wohl auch, dass im Frühjahr 2020 Dr. Ernst Leffers starb. Und es stellte sich heraus, dass man, also z.B. der Vorstand gemeinsam alt geworden war, dass es jedem einzelnen schwerer fällt, sich auf die übernommene Aufgabe zu konzentrieren. Man darf ja nicht vergessen, die Menschen, die im Vorstand der Hertha-Koenig-Gesellschaft arbeiten, machen das ehrenamtlich.

Gesellschaft mit großer Robe, Wein und Gespräch

Günter Butkus, Inhaber des Pendragon Verlages und Geschäftsführer der Gesellschaft, bedauert einerseits sehr, dass es nicht mehr weiter geht, andererseits sieht er ja den Hauptzweck der Gesellschaft erfüllt. Das Gesamtwerk Hertha Koenigs ist im Pendragon Verlag erschienen. Aber er stellt fest, die Auflösung hat auch damit zu tun, dass es keinen Nachwuchs gibt, der Interesse an der Vorstandsarbeit bzw. an Literatur hat. Vor 30 Jahren, also zur Zeit der Gründung, gab es auch noch kein Internet, in dem man alle mögliche Information und Zerstreuung finden konnte, es gab noch erheblich mehr Buchhandlungen, der Termindruck war noch nicht so hoch – klingt jetzt alles so idyllisch, aber so war es.

Eine Beobachtung, die übrigens von Dr. Walter Gödden, Geschäftsführer der Literaturkommission Westfalen, geteilt wird. Aufgrund seiner Position hat er einen guten Überblick über das literarische Leben nicht nur in Westfalen und da sieht es nicht eben hoffnungsvoll aus. Er bedauert die Auflösung sehr, denn es geht wieder ein Stück literarische Tradition unter, es wird wieder ein Stück gesellschaftliche Veranstaltung mit mehr oder weniger großer Robe und Wein und Gespräch über und mit den Preisträgerinnen wegfallen.

Eine Wohltat der Hertha-Koenig-Gesellschaft soll am Schluss stehen. Aus ihrem Restvermögen hat die Gesellschaft den „kleinen“ Preisträgerinnen noch ein Stipendium verliehen.

Autor*in: Uli Schmidt

Seit langem bekannt als "Der Kulturbote" aus Ostwestfalen: So empfängt Uli Schmidt heutzutage seine Gedankenblitze.