Das Fließen der Welt

Die Welt wandelt sich, und das ist ihre einzige Konstante. Oder um mit Heraklit zu sprechen: "Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen." Foto: Antje Doßmann

Das permanente Werden der Welt, dieses Nichts-bleibt-wie-es-ist, erachtete schon Heraklit (etwa 520-460 v. Chr.) als größte Herausforderung, aber auch größten Daseinsreiz für den Menschen. Denn erst die Vereinigung der aus dieser Prozesshaftigkeit resultierenden Gegensätze, zu denen er u.a. Jugend und Alter, Leben und Tod, Frieden und Krieg zählte, durch die verbindende Kraft des Logos schuf nach Ansicht des vorsokratischen Naturphilosophen die Harmonie der zerrissenen Welt, und nur auf dem Hintergrund des Negativen könnte das Positive erfahren werden. Die Welt in immerwährender Bewegtheit ist bei ihm bestimmt durch den Kampf gegensätzlicher Kräfte, aus dem wesentliche Phänomene wie die Musik, ja, das Leben selbst hervorgingen.

Eine Erkenntnissuche, die sich bis heute als produktiv erweist, wenn es um grundlegende Bedingungen menschlicher Existenz und um Positionierungen im Hier und Jetzt geht. Zwei Bücher, die an dieser Stelle vorgestellt und zur Lektüre nachdrücklich empfohlen seien, liefern auf unterschiedliche Weise Belege dafür. 

Das literarische Wir

Das eine, Nicolas Bröggelwirths 20 Zeitreisebilder “Erinnerungen an altes Fluss-Wasser”, greift das Heraklitsche Panta rhei (“Alles fließt”) in eher heiterer Manier als eine Art Motto für die autobiographische Spurensuche einer Jugend in Bünde auf. Das andere, Stefan Brams’ Lesezeichen aus Anlass des russischen Kriegs gegen die Ukraine “Eines Tages die Nacht”, kommt dagegen der Verzweiflung nahe, wenn es um die aktuell schwer erträgliche Wandelgestalt der Welt und des Seins in ihr geht.

Beiden Neuerscheinungen ist gemein, dass sie als Serien zunächst in der NW erschienen sind und dort auf große Resonanz stießen. Bei Brams, Leiter der Kultur -und Medienredaktion, ist die aktive Beteiligung der Leserinnen und Leser an einer von ihm moderierten Debatte sogar zentrales Merkmal. Das Wir, das sich in seiner Publikation zu Wort meldet und ein ums andere Mal Trost in der Literatur findet, ist ein ganz gegenwärtiges, fragendes, verunsichertes. Nicht zuletzt, weil Putins Angriff auf den Frieden auch ein Angriff auf den Pazifismus ist, den zu verteidigen mit jedem neuen brutalen Kriegstag schwieriger wird.

“Die Uniform des Tages ist die Geduld, die Auszeichnung der armselige Stern der Hoffnung über dem Herzen.” (Ingeborg Bachmann)

Am Beispiel seiner eigenen Angst, Trauer und Verzweiflung im Angesicht entsetzlicher Lageberichte aus der Ukraine, setzt der Autor zurückhaltende, jedoch deutlich realpolitische Akzente in der parallel zum Kriegsgeschehen ablaufenden, dialogisch geführten Debatte. Nach dem Vorbild einer “redaktionellen Gesellschaft medienmündiger Bürgerinnen und Bürger”, wie der Historiker Joachim Radkau ein derartiges, auf Augenhöhe agierendes Journalismusverständnis in seinem ausgezeichneten Nachwort zum Buch definiert, werden in “Eines Tages die Nacht” brennende, schmerzliche, auch polarisierende Fragen diskutiert.

Ohne Frieden bleibt die Weltgeschichte unvollkommen

Es ist der Krieg, der diese Fragen aufwirft, und entsprechend bedrohlich sind die Szenarien, die sich hinter ihnen abzeichnen. Sie reichen von “Wie tapfer würden wir selbst im Angriffsfall sein?” bis zu “Gibt es eine Alternative zur milliardenschweren Aufrüstung?” Besonders kontrovers diskutiert das Forum die Frage nach der Haltung der Ukraine. Ist es legitim, ihren bedingungslosen Verteidigungswillen in Frage zu stellen? Dürfen wir das? Hier wird der Autor als Vermittler gefragt und lässt gegen den kriegerischen Geist Lyrik in die Debatte einfließen. Unbeirrt von einzelnen Stimmen, die dieses Bemühen für naiv halten, zeigt er, wie feinfühlig gerade Gedichte auf Zeitströmungen reagieren und auf unsere Ängste, Sorgen und Hoffnungen hinweisen.

Wie sein ebenfalls im Kunstsinn-Verlag erschienenes Buch “Lesen gegen die Angst”, das vor zwei Jahren die lähmende Corona-Zeit aufgriff, hat Stefan Brams mit “Eines Tages die Nacht” eine an der gesellschaftlichen Basis orientierte Chronik der Krise verfasst, die zugleich eine Streitschrift für Kunst und Kultur ist und das Wir-Gefühl stärkt.   

Generation Mixtape

Nicht nur, weil Nicolas Bröggelwirth sein Buch “Erinnerungen an altes Fluss-Wasser” noch vor Kriegsausbruch in Druck gegeben hat, ist das Wir, auf das sich der 1975 Geborene in seinen gut gelaunten literarischen Streifzügen durch Bünde  bezieht, ein anderes als bei Brams. Der freie Journalist, Fotograf und Mitbegründer der “Herforder Autorengruppe” versammelt darin persönliche Erinnerungen und vergleichende Einst- und Jetzt-Wahrnehmungen der “Zigarrenstadt” an der Else. Die Ich-Erlebnisse, von denen er berichtet, stehen auch stellvertretend für kollektive Erfahrungen, und es gelingt ihm, mit scharfem Blick und pointierten Sätzen über das veränderte Stadtbild und den sich gewandelten Zeitgeist auch Nicht-Bünder und Frühergeborene für seine Miniaturen zu interessieren.

Sie handeln von Friedhöfen und Schwimmbädern, dem Raucherzimmer im Krankenhaus, Lieblingsläden und – cafés, Brücken und Parks und den erstaunlich verschiedenen Zonen, die eine Einkaufsmeile haben kann. 60er und 90er Kassetten kommen vor, Telefonzellen, Pril-Blumen und Eis von Langnese. Es ist von ersten Küssen und ersten Begegnungen mit der Polizei die Rede, von Schlägereien, kindlicher Freiheit und jugendlichem Ungehorsam. Ganz so, wie es sich für ordentliche Coming-Of-Age-Erzählungen dieses Jahrgangs eben gehört. Und natürlich war früher nicht alles besser. Aber irgendwie schon auch gut.  

Stefan Brams: ” Eines Tages die Nacht”

ISBN 978–3-939264-40-8

9,90 Euro

Nicolas Bröggelwirth: “Erinnerungen an altes Fluss-Wasser”

ISBN-13: 9783755719816

12,80 Euro

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.