Endlichkeit und Trost

Zu Gast in Wolfgang Braungarts diesjähriger Lyrikwerkstatt: Nancy Hünger (Foto: Antje Doßmann)

Christian Lehnert war schon da – er machte den Anfang – , Marion Poschmann und Jan Wagner, Uwe Kolbe und Thomas Rosenlöcher und viele andere namhafte Lyrikerinnen und Lyriker der deutschen Gegenwart. Wenn der in der Literaturszene gut vernetzte Germanist Wolfgang Braungart zur Lyrikwerkstatt nach Bielefeld ruft, folgen die meisten gerne. Die 1981 in Weimar geborene Nancy Hünger, in diesem Jahr zu Gast, machte da keine Ausnahme und ließ sich mit großer Offenheit ein auf ein altersgemischtes Publikum, das bei aller Unterschiedlichkeit der Lese- und Lebenserfahrung in einem Punkt doch sehr geeint war: seiner Begeisterung für lyrische Texte und ihrer aufmerksamen Durchdringung.

Ganz einzutauchen in die Bildwelt eines Gedichtes, seiner Sprachmusik nachzulauschen, aber auch die geistige Anstrengung zu unternehmen, es in seiner komplexen Bedeutung zu erfassen – für all das war auch dieses Mal großzügig Zeit und Raum. Und einmal mehr zeigte sich, wie fruchtbar es es ist, mit anderen zusammen den Fährten zu folgen, die ein Text auslegt. Sich austauschen. In verschiedene Richtungen wittern. Den Kern des Geschriebenen behutsam herausschälen.

Dank der behutsamen Moderation Wolfgang Braungarts verlor sich die Analyse selten im Ungefähren, driftete nicht ab ins Spekulative. So intensiv war das gut zweistündige Gespräch und so konzentriert, dass die Teilnehmenden schnell die kühle und etwas einschüchternde Hörsaalatmosphäre im neuen Teil der Uni vergaßen.

Schleifende Übergänge

Von elf zur Auswahl stehenden Gedichten wurden am Ende drei ausgiebig diskutiert. Mit “Der Abschied ist gemacht”, “pauschal” und “Um die Häuser, mein Freund” fiel die Wahl auf Texte, die thematisch zwar unterschiedlich waren, aber Nancy Hüngers Handschrift durchgängig erkennen ließen. Charakteristisch für ihre Lyrik die ‘schleifenden’ Zeilenenden, die sich sowohl zurück- als auch vorbeziehen können, was vielleicht ein Vers aus “Der Abschied ist gemacht” am besten verdeutlicht:

wer weiß schon wie es sich ausnimmt

glaubst du an nichts wird alles wahrscheinlich

denkt irgendjemand dreimal im Jahr deinen Namen

hört man immer seltener verspricht sich einer

Ein Gedicht über die letzten Dinge, das Sterben und darüber, was Trost spendet beim Gedanken, das Leben eines Tages loslassen zu müssen. Zwei drei leise Gedichte sind es für die Lyrikerin und ein wenig Musik. Worte, die sich klein anhören, aber Großes meinen. Und jeder, der ein Stück Literatur oder Musik schon einmal als etwas wirklich Wesentliches für das eigene Leben erfahren hat, weiß, wovon sie spricht in diesem Gedicht.

So ließ es sich auch aus den Wortmeldungen heraushören, und Nancy Hünger, die sich, wie es guter Brauch bei dieser Veranstaltung ist, mit eigenen Deutungen zunächst zurückhielt, konnte sich der inneren Zustimmung des Auditoriums sicher sein, als sie das schlicht berührende Gedicht zum Abschluss der Analyse noch einmal vortrug.

Pauschaliät und Solidarität

Kontroverser ging es hingegen beim nächsten Gedicht zu, “pauschal”, das unabhängig davon und im Gegensatz zum vorangegangenen und auch zum nachfolgenden nicht ganz in seiner Bedeutungstiefe erfasst wurde an diesem Abend. Denn kurioserweise wurde es unterm Strich ein bisschen zu pauschal ausgelegt und ging sich dadurch gewissermaßen selbst in die Falle, wogegen Nancy Hünger nicht – und Wolfgang Braungart erst zu spät ansteuerte. Aber wer weiß? Womöglich war gerade das produktiv. So sind zumindest alle, die dabei gewesen waren, angehalten, weiter darüber nachzudenken, was es mit der unsichtbaren Hand auf sich hat, die dort draußen über unsere Kissen streicht, wie es am Ende des Gedichtes heißt. Und was auch immer sie ist – etwas Pauschales ist diese Hand gewiss nicht. Oder doch?

Das Wolfgang Hilbig gewidmete “Um die Häuser, mein Freund” machte den Abschluss und ließ die Lyrikerin als eine leidenschaftliche Fürsprecherin des früh verstorbenen, von tragischen Lebensumständen umschatteten Autors erkennen. Dass ein Gedicht auch das kann, sich still und solidarisch und zornig und traurig jemandem zur Seite zu stellen, dem man mehr gewünscht hätte, mehr Anerkennung und vor allem mehr Glücklichsein, war eine zu Herzen gehende Erfahrung und Erkenntnis. Es rundete die Begegnung mit einer Autorin, die dem Wort vertraut und den Tröstungen der Dichtung, zu einem Erlebnis ab, das nachklingt noch immer.

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.