Büchners Schwester

In Deutschland sei Georg Büchner ihr immer ein Vorbild gewesen, das ihr fast ein schlechtes Gewissen gemacht habe, bekannte die Büchner-Preisträgerin Emine Sevgi Özdamar (links) bei ihrer von Maria Kublitz-Kramer moderierten Lesung in der Stadtbibliothek Bielefeld (Foto: Antje Doßmann)

Wer den Büchner-Preis errungen hat, wird von der Literarischen Gesellschaft OWL nach Bielefeld zur Lesung eingeladen. Das ist seit vielen Jahren guter Brauch und eröffnet den Reigen hochkarätiger Veranstaltungen, der über die nächsten Monate in der Stadtbibliothek zuverlässig folgen und im Herbst mit den Literaturtagen in ein regelrechtes Freudenfest für alle Leseenthusiasten münden wird. Ja, Bielefeld ist eine Literaturstadt – Emine Sevgi Özdamars beeindruckend gut gesuchte Lesung am Mittwochabend lieferte den Beweis.

Dass der Andrang in ihrem Fall so besonders groß war, mag auch daran gelegen haben, dass die in Berlin lebende türkischstämmige Autorin, Schauspielerin, Theatermacherin einen Geist in die Stadt trug, an den sich viele Bielefelderinnen und Bielefelder ihrer Generation mit Stolz, Liebe und auch ein wenig Wehmut sicherlich selbst gerne erinnerten: es war der Geist der Revolution.

Daher kam es, dass der inspirierte, engagierte, passionierte, nimmermüde, wagemutige Genius Georg Büchners in dem, was die 1946 geborene Autorin aus ihrem aktuellen Roman “Ein von Schatten begrenzter Raum” vorlas und im Kontext dieses Lebensbuches erzählte, so deutlich wie in noch keiner Lesung mit den jeweiligen Preisträgerinnen und Preisträgern zuvor herauszuhören war. Nicht nur für die 68er im Publikum ein Grund zur warmen Begeisterung.

Denn klug sind die Worte, die Emine Sevgi Özdamar spricht, poetisch die Worte, die sie schreibt. Ihr zuzuhören bedeutete, auf eine innere Reise zu gehen, die wie ein Einatmen und ein Ausatmen von Istanbul nach Berlin, von Berlin nach Istanbul, von Istanbul nach Berlin, von Berlin nach Paris führte, immer entlang der Lebensstationen der zunächst abenteuerlustigen, später vor der türkischen Militärregierung nach Europa fliehenden Kulturrevolutionärin.

Ihre an Bildern so reiche Sprache, die Bericht gab über die Kunst des Lebens und Überlebens in Zeiten des gesellschaftlichen Aufbruchs, ließ die geschilderten Begegnungen und Situationen zum Beispiel im Ost-Berliner Theatermilieu plastisch erscheinen. Und dank des von Maria Kublitz-Kramer virtuos geführten Gesprächs war eine Menge zu erfahren über das, was die Preisträgerin zum Schreiben bewegt und zum Leben bewegt, über ihre Liebe zu Georg Büchner und Heinrich Heine, und auch über das, was die Bundesrepublik zu einem manchmal wirklich schrägen Land macht.

Der subtile Humor der Autorin tat das seinige dazu. Einmal, hieß es in dem Roman, aus dem Emine Sevgi Özdamar großzügige Portionen vortrug, sollte die Alter Ego-Protagonistin einer Zugbekanntschaft (die sich als Zuhälter herausstellte) erzählen, wovon das Theaterstück handelte, bei dem sie Regie führte. “Ein alter Schelm”, fasste sie den Inhalt zusammen, “wandert mit seinem Esel nach Deutschland aus. Dort muss der Esel nicht mehr arbeiten und wird Intellektueller.” Wunderbar!

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.