Der Lärm vor dem Sturm

Zwischen Größenwahn und Depression, Kick und Kollaps - wer bist du, Mensch? "Schrittmacher trifft TANZ-Jugendclub" begab sich auf atemlose Spurensuchen (Foto: Bettina Stöß)

Am Wochenende haben Kerstin Tölle und Gianni Cuccaro, die beiden Köpfe der Community Dance-Projekte am Theater Bielefeld, wieder zugeschlagen. Im Tor 6 Theaterhaus ließen sie die Schrittmacher zu Krachmachern werden und den TANZ-Jugendclub zum Fightclub. “Zu laut? Zu leise? Zu was?” hieß die Performance, die aus der Begegnung der beiden Projekte hervorging und einmal mehr für eine Sternstunde moderner Tanzkunst sorgte.

Nie waren wir so wertvoll wie heute. So flüstert, nein: schreit es uns ein immer maßloser werdender Persönlichkeitskult ein. Unaufhaltsam steuert er auf seinen Peak zu; danach wird seine Kurve flacher, wie wir aus Erfahrung wissen. Doch solange dieser Punkt noch nicht erreicht ist, werden seine Töne schriller und schriller. Es ist die Zeit der Hyperbel, die Zeit des Superlativs. Kaum noch jemand, der kein Genie ist. Und wenn auch ein Genie des Scheiterns. Bevor die ganze Blase zerplatzt, heißt es: noch einmal: tanzen, tanzen, tanzen….

Dass dieses auch bedeuten kann, Altes wegzutanzen und Neues herbei, zeigte die Schrittmacher trifft TANZ-Jugendclub-Performance “Zu laut? Zu leise? Zu was?” mit unglaublicher Präzision. Auch dass jede Generation sich selbst findet und erfindet. Und dass das Glück der freien Selbstentfaltung das vollkommene Gegenteil der medial propagierten Selbstoptimierung ist.

Auf der regenbuntenbunten, wie ein Delaunay-Kunstwerk anmutenden Bühnenfläche und zu den treibenden Klängen von Florence & The Machine’s “Dog Days are over” eröffneten die zehn jungen Tänzerinnen von TANZ-Jugendclub ihre Serie von Gruppen-, Tandem- und Solochoreographien, die sie im Lauf des Abends mit so viel Power, individueller Präsenz und zugleich selbstverständlichem Gespür für die anderen darbieten würde, dass das Publikum schnell in ihren Bann gezogen wurde. Da wirkte nicht eine Bewegung angesetzt, alles war fließend und schien sich absolut organisch zu entwickeln. Großartig! Beinahe verzichtbar angesichts der beredten und ungemein lebendigen Körpersprachen erschienen da die gelegentlichen Sprecheinlagen.

Ob es nun um Gefühle der Fremdbestimmung, Leistungsdruck, Versagensängste oder Anpassungszwang ging – Themen, die von den jungen Frauen eingebracht und in Zusammenarbeit mit Kerstin Tölle, Gianni Cuccaro und Ives Thuwis tänzerisch erarbeitet worden waren – alles Belastende nahm kunstvoll Gestalt an auf der Bühne und wurde zugleich tanzend überwunden. Das ist und bleibt ein hervorragendes Verdienst dieses Formats. Eine sicherlich prägende Erfahrung für die Teilnehmerinnen, die ihrerseits das Publikum begeisterten, auch durch heitere Einfälle. Sehr komisch war zum Beispiel die Szene, als sie sich selbst in Ohnmacht quatschten und mitten im Satz einfach umfielen.

Zur Selbstironie ebenfalls fähig, traumsicher wirkend in Bewegung und Timing, kraftvoll geerdet die einen, fast schwebend manchmal die anderen, und wie die Jungen ausdrucksstark in ihren Gesten, wenn auch auf ganz andere, reife Weise, zeigten sich die Schrittmacher. Sie traten weitgehend im Wechsel mit dem TANZ-Jugendclub auf und dass ihnen dabei wunderbar elegante Übergänge gelangen, kann wohl als eigene Aussage gewertet werden: Hier trafen zwei Gruppen aufeinander, die einander respektvoll Raum ließen,.

Nur ganz am Ende verließen sie fröhlich durcheinandergemischt die Bühne. Echte, authentische, selbstbewusste Menschen verschiedener Altersklassen im lebhaften Gespräch, die zuvor stumme Emojis gemint und performt hatten. Ein undramatisches, durch und durch liebenswertes Schlussbild. Zu laut, zu leise, zu sonstwas war bei dieser Performance gar nichts. Sondern einschließlich des spannenden Soundtracks alles genau richtig.

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.