Von blanken Nerven und wandernden Requisiten

von links: Georg Böhm, Carmen Witt, Thomas Wehling, Simon Heinle Foto: Philipp Ottendörfer

Ein wenig später als ursprünglich geplant (wie passend für dieses Stück…) feierte am Stadttheater Bielefeld Michael Frayns turbulente Komödie „Der nackte Wahnsinn“ Premiere. Ein Klassiker, der auch über vierzig Jahre nach seiner Uraufführung noch das Potential hat, das Publikum vor Lachen aus den Stühlen zu heben. Zumal, wenn das Ganze so pointiert in Szene gesetzt wird, wie Klaus Christian Schreiber es am Stadttheater tat.

Stell Dir vor, Du sitzt in der Vorstellung des Ostwestfälischen Landestheaters „Nackte Tatsachen“ und freust Dich auf einen gediegenen Abend, denn dafür ist diese Bühne bekannt. Also: Eigentlich ist Mrs. Clackett ja nur in die Wohnung ihres Arbeitgebers gekommen, um die Fernsehübertragung dieses –wie heißt er gleich noch mal?? Na, dieses berühmten Toten da!! – anzuschauen und dabei einen Teller mit Sardinen zu genießen. Ungeniert erzählt sie von ihrem Arbeitgeber, dass er eigentlich in Spanien – Mallorca oder so – wohnt, weil er dort vor der Steuer sicher ist. Und dann geht das Telefon und sie weiß dann den letzten Namen des Mitbetreibers der Maklerfirma, die dieses Haus verkaufen soll, nicht und will deswegen mit dem Telefon ins Büro gehen um nachzuschauen und dann stellt sie die Sardinen neben das Telefon und will also ins Büro gehen, da schreit auf einmal eine Stimme von hinten aus dem Zuschauerraum, die immer näher kommt, dann auf einmal direkt vor der Bühne steht und der Mrs. Clackett sehr lautstark sagt, was sie nun zum wiederholten Mal alles falsch gemacht hat in dieser kleinen Szene und ob das denn überhaupt zu viel verlangt ist und ob sie sich das nicht endlich mal merken könne, schließlich ist morgen Premiere und da soll das doch alles sitzen und klappen. Der Regisseur Tillmann Oldenburg ist ziemlich genervt.

Jetzt ist klar: Du siehst ein Stück Theater im Theater, und sofort denkst Du, das kann ja heiter werden. Das wird es dann auch, denn es tauchen unerwartet nicht nur der Hausbesitzer mit Ehefrau auf,sondern auch noch ein Interessent für das Haus mit Freundin sowie ein Einbrecher. Klingt erst mal übersichtlich. Aber das bleibt es nicht, weil die Schauspielerinnen und Schauspieler dem Rollenverständnis des zu spielenden Textes entsprechend nicht gerade sehr helle sind. Der Regisseur wiederum ist ein Genie, dem völlig klar ist, dass er hier seine Perlen vor Säue wirft. Und weil immer wieder der eine oder die andere aus dem Ensemble eine vom Regisseur äußerst genial erdachte Szene auf der Probe versaut, muss der natürlich permanent den kaum vorhandenen Spielfluss unterbrechen. Dabei macht er alle der Reihe nach zur Schnecke, was diese sich mehr oder minder missmutig gefallen lassen müssen. Denn aus dieser Produktion rausgeschmissen zu werden, das kann sich keiner leisten.

von links: Simon Heinle, Carmen Witt, Oliver Baierl, Christina Huckle Foto: Philipp Ottendörfer

Theaterstücke dieser Art leben vom rasanten Szenenwechsel. Der wird hier erreicht durch ein geniales Bühnenbild mit vielen Türen in zwei Etagen, einer nahezu gemeingefährlichen Treppe und Requisiten, die rasant vom einen zur andern wechseln und umgekehrt. Die anfangs erwähnten Sardinen von Mrs. Clackett spielen dabei eine Hauptrolle, denn nahezu alle sind irgendwie daran beteiligt, die Sardinen von hier nach da oder dort und zurück und überhaupt zu bringen, bzw. darauf auszurutschen. Zusammengebundene Schnürsenkel kommen ebenso vor wie abgebrochene Türklinken, starker Klebstoff  inklusive des dazugehörigen freilich viel zu starken und gefährlichen Lösungsmittels ebenso wie verschiedene Bettlaken und das eingangs erwähnte Telefon mit erstaunlich langer Leitung. Ein running gag sind die immer wieder verloren gehenden und wiedergefundenen Kontaktlinsen, mal linkes mal rechtes Auge.

Bis zum Ende des ersten Bildes, dessen Durchlauf das Ostwestfälische Landestheater allen Bemühungen zum Trotz tatsächlich schafft, glaubst Du einer Inszenierung zuzuschauen, die bei aller Turbulenz doch zu einem glücklichen Ende führt. Dann wirst Du in die Pause entlassen. Der zweite Teil zeigt ein anderes Bühnenbild. Hattest Du vorhin den Blick auf die Bühne, wie sie Zuschauer nun mal so haben, blickst Du nun auf die Hinterbühne. Du siehst nun, wie es auf der Hinterbühne zugeht, wenn vorne gespielt wird.

Die Situation hat sich insofern verändert, als es die letzte Vorstellung einer elend langen Tournee durch viele schöne Städtchen und Orte in Ostwestfalen und Umgebung ist. Keine/r weiß es so ganz genau, aber diese letzte Vorstellung findet wohl im Kurtheater in Bad Salzuflen statt. Nun darfst Du aber nicht glauben, dass der Text und die Gags sitzen, weil es doch schon so viele Vorstellungen gegeben hat. Oh nein! Der Text und Gags hatten wenig Chancen sich festzusetzen, weil das Ensemble sich Eifersüchteleien und ähnliche Sachen leistete und leistet, weil hier keine/r dem ander/e/n die Butter auf dem Brot bzw. die Liebesbeziehung zum Regisseur gönnt. Und das wird gern mal handgreiflich mit Axt oder Kaktus aus- bzw. nachgetragen.

Kaum zu glauben, wie artistisch die Schauspielerinnen und Schauspieler mit dieser Axt umgehen, wie gezielt so ein Kaktus eingesetzt und wie liebevoll die Folgen dieser Attacke behoben werden können. Diverse Blumensträuße, die der Befriedung dienen sollen, vergröbern das Liebesleid, und zum Schluss werden alle ganz irre, weil da auf einmal statt des einen gleich drei Einbrecher die Bühne bevölkern. Von dem Einbrecher, der ursprünglich für diese Rolle vorgesehen war und seinen Part eigentlich auch immer ganz passabel vorgeführt hat, also auf der Probe, wissen alle, dass er gern einen mehr trinkt.

Weil er aber so ein armer, dennoch lieber Kerl ist, hat man ihn bisher immer mitgeschleift. Sicherheitshalber hatte der Regisseur aber eine Zweibesetzung für ihn vorgesehen: Nämlich den sowieso völlig überlasteten Inspizienten. Aber da man ja wusste, dass der überlastet war bzw. ist, gab’s also noch eine Drittbesetzung. Und die tat, was sie wie die Zweitbesetzung für richtig hielt. Sie bzw. er brach ein. Mit eleganter Rolle durch das  Klappfenster. Gut, dass die Erstbesetzung zwar betrunken aber auftrittsfähig war, konnte keiner wissen. Also kam die Zweitbesetzung durchs Fenster. Dann kam aber auch noch die Drittbesetzung. Und keiner wusste so recht wieso weshalb warum. Soweit, so gaga.

Am Ende des erstklassigen Hochleistungssporttheaters nicht enden wollender Beifall für die Spiellust und -kunst von Carmen Witt, Simon Heinle, Susanne Schieffer, Alexander Stürmer, Christina Huckle, Oliver Baierl, Georg Böhm, Fabienne-Deniz Hammer und Thomas Wehling. Und Lachmuskelkater beim Publikum.

Zu loben für die Fülle komischer Einfälle ist neben Regisseur Klaus Christian Schreiber der Bühnenbildner Alexander Grüner, für die herrlichen Kostüme Wicke Naujocks und für die Dramaturgie Franziska Eisele. Und übrigens: Das Stück, das hier im Stadttheater Bielefeld gezeigt wird, heißt nicht „Nackte Tatsachen“, sondern viel realistischer: „Der nackte Wahnsinn“. Man sollte es eigentlich mit Doppel-aa schreiben.

Die nächsten Vorstellungen: 04.04. und 08.04 um 19 Uhr 30.

Autor*in: Uli Schmidt

Seit langem bekannt als "Der Kulturbote" aus Ostwestfalen: So empfängt Uli Schmidt heutzutage seine Gedankenblitze.