No Man’s World

Inszenierte Wirklichkeit oder wirkliche Inszenierung? Katharina Bosse, zusammen mit Christiane Heuwinkel Kuratorin der Ausstellung "Alle Wege sind offen - Fotografinnen auf Reisen" im Kunstforum Hermann Stenner, betrachtet in ihren eigenen Arbeiten - wie hier bei "Diane" (2017) - die von ihr erkundete Welt, indem sie Elemente der Wirklichkeit und des schönen Scheins zu neuen Geschichten zusammensetzt (Foto:s Antje Doßmann)

Nach der Präsentation der großformatigen Architekturbilder von Joseph Schulz im Jahr 2020 (siehe unsere Besprechung vom 21.8.2020 https://resonanzen-owl.de/2020/08/21/der-mensch-verschwindet-aus-dem-holozaen/) hat sich das Kunstforum Hermann Stenner unter der Leitung von Christiane Heuwinkel erneut zu einer umfassenden Fotografie-Ausstellung entschlossen. 56 Arbeiten wurden damals in der Einzelausstellung gezeigt, in der umfangreichen Gruppenausstellung sind es diesmal 250. Bilder aus acht Jahrzehnten von dreizehn Fotografinnen.

Namhafte Künstlerinnen sind dabei, die sofort aufhorchen lassen. Ruth Orkin, Annemarie Schwarzenbach, Kelli Connell, Justine Kurland. Andere gilt es, in dieser wegweisenden Schau zu entdecken. “Wir wussten am Anfang selbst nicht, wohin die Reise geht”, sagen Christiane Heuwinkel und Katharina Bosse, die sie gemeinsam kuratiert haben. Herausgekommen ist eine nuancenreiche, die Vielfalt weiblicher Fotokunstpositionen schlaglichtartig beleuchtende Zusammenstellung ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Dass der afrikanische und arabische Raum und auch der osteuropäische unterrepräsentiert sind, ist den beiden Ausstellungsmacherinnen bewusst. In diese Länder Kontakte aufzubauen, die bislang fehlen, gehört mit zu den Effekten, die sie sich von ihrer jetzigen Ausstellung wünschen. Sie könnte ein Anfang sein.

Reisen und (Auf)-Brüche

Zu entdecken gibt es in “Alle Weg sind offen” eine Fülle anregender und aufregender Spuren, die zur weiblichen Weltwahrnehmung führen. Das klug gewählte Unterthema “Fotografinnen auf Reisen” ließ Raum für eine großzügige Auslegung des Reise-Topos’, wodurch die Ausstellung an keiner Stelle in die Nähe sedierender Urlaubsdiashows gerät; ebenso wenig wie die klaren, aus einer reflektierten Haltung zu sich selbst und anderen konzipierten Arbeiten Nostalgie, Bildungsbeflissenheit oder diffuse Sehnsucht transportieren. Allenfalls spielen sie mit Klischees, die in diese Richtung weisen, brechen sie ironisch wie Ruth Orkin oder sensibel, wenn das Reisen mit schmerzlichen Verlust oder dem Gefühl des Scheiterns verbunden ist, wie Sibylle Fendt in ihrer Serie “Gärtners Reise” und Amy Stein in “Gestrandet”.

Last time/past time: In sechzehn Bildern erzählt Sibylle Fendt, Absolventin der FH Bielefeld, in der Serie “Gärtners Reise” vom Erreichen des Endes einer gemeinsamen Reise durch das Leben

Ihren schönen, so hoffnungsvollen Titel, der abstrakt an Freiheit und Aufbruch denken lässt, aber auch konkret an Frieden, das Ende einer Belagerung, oder an Frühling, wenn Pässe wieder befahrbar werden, was für Reisende ja nicht unwichtig ist – verdankt die Ausstellung Annemarie Schwarzenbach (1908-1942). Der ruhelosen, von Weltsehsucht beinahe gepeinigt wirkenden Schweizer Schriftstellerin und Fotojournalistin, die durch die USA und Afghanistan gereist ist, wo sie Einblicke in spezifisch weibliche Lebenswelten erhielt, ist in der Ausstellung eine große Text-Bild-Collage gewidmet.

Licht und Schatten: Als Annemarie Schwarzenbach 1936 zum ersten Mal ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten reiste, waren die USA noch schwer gezeichnet von der Weltwirtschaftskrise

Auch die Fotografin und Dokumentarfilmerin Emine Akbaba, 1987 in Hannover geboren, hat Frauen fotografiert, die in traditionellen Strukturen leben und ihnen mit ihrer Serie “Ein Stück Heimat” ein ebenso unsentimentales wie liebevolles Denkmal gesetzt.

Die Leichtigkeit des Seins: Im Schrebergarten zwischen Säen und Ernten finden türkische Frauen Momente wie diese. Emine Akbaba lichtete ihn ab.
Weibliches Empowerment

Was macht weibliche Identität aus, und wie offenbart sie sich in diesen Fotografien aus achtzig Jahren? Dass es bei der Suchbewegung auch um Selbstbehauptung im Schatten männlicher Dominanz geht, thematisieren u.a. die epigonalen, scharfsinnig konzipierten Arbeiten der feministischen Fotografin Kelli Connell. Ihrem Zyklus “Pictures for Charis”, im Obergeschoss des Kunstforums Hermann Stenner zu sehen, liegt eine intensive Auseinandersetzung mit der Beziehung zwischen der Schriftstellerin Charis Wilson und dem Fotografen Edward Weston zugrunde.

Indem Kelli Connell zusammen mit ihrer Partnerin Betsy einige der ikonografischen Körper-Landschaftsaufnahmen Westons aus den Jahren 1938 und 1939 nachstellten und mit der Kamera fixierten, sorgen sie für so etwas wie für späte Gerechtigkeit. Denn die maßgebliche Rolle, die Charis Wilson innerhalb des künstlerischen Wirkens Edward Westons gespielt hat, war der damaligen Öffentlichkeit nicht bekannt. Im Vordergrund stand der Name des Fotografen. Wird die “Pictures for Charis”-Serie nun in der Bielefelder Ausstellung betrachtet, stellen sich zweierlei Effekte ein:

Zum einen wird durch Connells Nach-Stellungen das von ihr künstlerisch geschätzte Werk Westons erinnernd geehrt. Zum anderen mag es passieren, dass Betrachtende weder auf den Titel der Serie achten noch den Informationstext zur Serie lesen, sondern sich ausschließlich auf die wunderbar mit Licht und Schatten, Schraffur und Struktur, Oberfläche und Linie spielenden Landschaftsaufnahmen konzentrieren. “Pictures for Charis” stellt eine ästhetische Analogie zum menschlichen Körper her, lässt etwa Ähnlichkeiten von Felsgestein und Sandverwehung zur menschlichen Haut erkennen oder erklärt die Geschwungenheit einer von oben fotografierten Landschaft mit den Konturen des weiblichen Leibes für deutlich verwandt. Den Blick dafür aber hatte Edward Weston vor Kelli Connell. Indem sie möglicherweise Meriten einstreicht, die eigentlich ihm gebühren, begleicht sie mit der Serie gewissermaßen eine alte männlich-weibliche Rechnung.

Künstlerin sein und Mutter

Schließlich die Kinder – keine Frau hört auf, Künstlerin zu sein, wenn sie Mutter wird. Dass alles sich ändert mit der Geburt eines Kindes, steht indes genauso außer Frage. Also von da an mit Kind auf Reisen gehen, seinen Blickwinkel einnehmen, seine Bedeutung im eigenen Frauen-Leben zum Thema machen, das Kind abbilden als Teil des künstlerischen Konzeptes? Justine Kurland arbeitet so. Und Katharina Bosse ebenfalls.

Spare Some Gas, 2010 von Justine Kurland

Waiting for Trains While Playing with Trains, 2009 von Justine Kurland

Justine Kurland und Katharina Bosse – es ist spannend, die Arbeiten der beiden Fotografinnen in dieser Ausstellung im direkten Vergleich betrachten zu können. In der kleinen Projektgalerie Elsa zeigt Katharina Bosse in Kürze weitere Arbeiten der Künstlerkollegin https://elsa-art.de/2023/03/19/justine-kurland-pages-from-scumb/. Sie selbst ist in “Alle Wege sind offen” mit mehreren Werkreihen vertreten, was einen guten Überblick über das Schaffen der renommierten, weit über Bielefeld hinaus bekannten Fotografin und FH-Professorin ermöglicht.

“Ich möchte nicht zeigen, was ich sehe. Ich möchte ein Bild machen”, schreibt Katharina Bosse in dem sehr empfehlenswerten Katalog zur Ausstellung. Bei diesem unbetitelten Foto hier handelt es sich im übrigen um das erste von vier Bildern, das vom New Yorker MoMA 1994 angekauft wurde.
Fazit: Christiane Heuwinkel (links im Bild) und Katharina Bosse haben mit “Alle Wege sind offen” eine Ausstellung realisiert, die mit großer Strahlkraft von der weiblichen Perspektive in der Kunst der Fotografie und der Kunst des augenoffenen Weltbereisens erzählt. Der inakzeptable Umgang mit der Leiterin des Kunstforums Hermann Stenner, die das Haus einfallsreich selbst durch die schwierigen Coronajahre manövriert hat, erscheint in diesem Zusammenhang besonders bitter.

Die Ausstellung ist im Kunstforum Hermann Stenner

Obernstraße 48

33602 Bielefeld

Tel.: 0521/800660-16

bis zum 13. 8.2023 zu sehen.

Öffnungszeiten;

Mi-Fr 14-18 Uhr

Sa, So und feiertags 11-18 Uhr

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.