„Grabtuch aus Schmetterlingen“ – Der neue Gedichtband von Lina Atfah

Nominiert sind jeweils sechs Titel, der/die Gewinner erhalten jeweils 15 000 €, die übrigen jeweils 1 500 €. In der Sparte Übersetzung befindet sich Brigitte Oleschinski mit der Übersetzung des Bandes darunter. Foto: Schmidt

Auch Übersetzungen sind der Leipziger Buchmesse einen der nach ihr benannten Buchpreise wert. Nominiert in der Sparte Übersetzung ist unter anderen ein Titel von Lina Atfah aus dem hiesigen Pendragon Verlag.

„Grabtuch aus Schmetterlingen“ ist dort bereits der zweite Band mit Gedichten dieser syrischen Lyrikerin. Dazu später mehr.

Immigrant Song

Es ist ein nachdenklich stimmendes Bild – Grabtuch aus Schmetterlingen. In ein Grabtuch, so westliches Wissen, werden Muslime eingeschlagen und beerdigt. Und Schmetterlinge gelten, so schreibt der Lyriker Jan Wagner im Vorwort dieses Buches, seit der Antike als die Verkörperung der Seele. Das ist ihm tröstlich, weil Verpuppung und Wiederauferstehung zum Wesen des Schmetterlings gehören. Im titelgebenden Gedicht dieses Bandes werden also muslimische und christliche Bestattungsrituale vereint. Im Gedicht stürzt sich ein Engel „Knall auf Fall“ in den Abgrund. Dieser Fall ist eine „donnernde Flucht“, nach der eben dieser Engel im Wettbewerb mit vielen anderen ohne seine Flügel da steht. Diese Flucht, so darf man vermuten, bedeutet Lina Atfahs Ausreise aus Syrien, die ihr 2014, ein Jahr nach der Flucht ihres Mannes Osman Yousufi, gewährt wurde.

Das Gedicht handelt also von Lina Atfahs Befindlichkeit nach der Ankunft in Deutschland. Die ist zunächst einmal katastrophal. Keine Sprachkenntnisse, kaum Orientierung außer der, dass sie mit ihren arabischen Sprachkenntnissen kaum Aussicht auf Erfolg hat.

„Der Himmel ist nichts./Die Erde ist auch nichts.“

Lina Atfah – “Grabtuch aus Schmetterlingen”

Schreibt sie. Das Leben werde es bereuen. Doch weit gefehlt. Flügel aus Gold und Blau und Rosa umflattern sie, sie klappen auf und zu und steigen grenzenlos ins Weite. Das Grabtuch aus Schmetterlingen, so ist aus diesem Gedicht zu lesen, lässt also doch Hoffnung zu. Berechtigte Hoffnung.

Dazu ein Rückblick in das Jahr 2017. Damals waren sechs Lyrikerinnen und Lyriker aus Syrien – Lina Atfah, Aref Hamza, Mohammad Al-Matroud, Rasha Omran, Lina Tibi, Raed Wahesh – zu Gast im Künstlerhaus Edenkoben, vereint im Gespräch mit den Übersetzerinnen und Übersetzern Dorothea Grünzweig, Brigitte Oleschinski, Christoph Peters, Joachim Sartorius, Julia Trompeter, Jan Wagner.

Übersetzungsarbeitswoche

Die Dichter waren die ersten Demokraten. Eine auf den ersten Blick steile These – für den arabischen Raum trifft sie zu, ob in der fernen Geschichte des Goldenen Zeitalters der Lyrik des Hohen Mittelalters oder in der neusten Geschichte, etwa der Revolution in Syrien im Arabischen Frühling, die zum Vernichtungskrieg ausartete: In Syrien waren die Dichterinnen und Dichter ganz vorn bei denen, die sich für eine Demokratisierung der Gesellschaft einsetzten. Sie haben es gebüßt durch Verfolgung und Exil, jetzt leben einige von ihnen in Deutschland und sind somit die nächsten Nachbarn, die das Projekt “Poesie der Nachbarn. Dichter übersetzen Dichter” je als Gäste hatte. Herausgekommen ist bei dieser Arbeitswoche ein Buch mit dem Titel „Deine Angst – Dein Paradies“ in dem der arabische Originaltext teils mehreren deutschen Übertragungen gegenübergestellt wird, die nicht nur unterschiedliche poetische Ansätze und die Handschrift des jeweiligen Übersetzers tragen, sondern auch aufzeigen, wie sehr Übersetzung aus einer dem Deutschen so unterschiedlichen Sprache wie Arabisch doch immer auch Nachdichtung ist. So nachzulesen in Signaturen, einem Internet-Magazin für autonome Poesie.

Nachdichtung ist das Stichwort. Denn darum handelt es sich auch beim „Grabtuch aus Schmetterlingen“. Nachdichterin ist in diesem Fall Brigitte Oleschinski, die, siehe oben, Lina Atfah seit Künstlerhaus Edenkoben kennt. Für eine Nachdichtung braucht es in jedem Fall eine Interlinearversion, will sagen, eine Wort-für-Wort-Übertragung. Dafür ist in diesem Fall Lina Atfahs Ehemann Osman Yousufi verantwortlich. Dem eine ganz eigene Erfahrung mit der deutschen Sprache zugestoßen ist, die mit seinem Migrationsstatus zu tun hat. Aber er hat erfreulicherweise nicht aufgegeben. Seine Erfahrungen mit der deutschen Sprache jenseits behördlicher Maßnahmen wuchsen in dem Maße, in dem er sich mit Fragen des Übersetzens beschäftigte. Sie gipfelten in der Erkenntnis: „Arabische Autor*innen versuchen fast immer, möglichst alles zu sagen. (…) Dagegen geben deutsche Autor*innen den Leser*innen viel größeren Freiraum, auch größere Selbstverantwortung mit dem Text. Sie verdichten, während ein arabisches Gedicht vor allem nach Intensität sucht.“

“Auf was lasse ich mich hier überhaupt ein?“

Diese Frage stellt sich Brigitte Oleschinski in den Toledo-Journalen, Materialschauen rund um den Prozess der Übersetzung, wo Probleme der Lyrikübersetzung und Nachdichtung diskutiert bzw. dargestellt werden. Sie legt öffentlich ihre Überlegungen, Skrupel,und eventuell hilfreiche Zitate vor, ergänzt um Kommentare von Osman Yousufi und Lina Atfah, um damit den Weg zu zeigen, den diese Gedichte vom Hocharabischen ins Hochdeutsche genommen haben.

Die Eingangsfrage stellt klar, dass sich die Nachdichterin auf Glatteis, auf jeden Fall auf ein heikles Terrain begibt. Denn sie ist sich bewusst, dass sie einerseits Kunst liefern muss, andererseits aber Dienstleisterin, Handwerkerin ist. Und sie dichtet gegen ihren eigenen Tonfall. Das Problem: Sie ahnt hinter der Zweitstimme, die sie als Annäherung herstellt, einen noch undeutlichen Zweitkörper, besser einen anderen Tonfall, der sich aus Lena Atfahs Situation zwischen Ankunft und Bleiben herausbildet. Für Brigitte Oleschinski halten die neuen Texte die Schwebe zwischen Ausgangs- und Zielsprache, denn die Lyrikerin muss sich mit ihrem Schreiben jetzt im Exil einrichten, sie muss aber auch die Erfahrungen in der Zweitsprache verarbeiten, die sie und ihre Texte verändern.

Ist es in allen Sprachen dasselbe Gedicht?

Doch der Nachdichterin geht es zunächst einmal um die vorliegenden Texte, die sie – wie schon erwähnt – in einer Interlinearversion vorliegen hat. Eine Interlinearversion ist noch kein Gedicht, sondern gibt im besten Fall den Anlass für ein Gedicht, sie ist ein aus der Endfassung nicht wegzudenkendes Gerüst. Die Nachdichterin fragt sich: In welcher Sprache sprechen einsprachige Gedichte, gemeint sind hier Lina Atfahs Gedichte in der Ursprungssprache. Sie spricht und schreibt ein poetisches Hocharabisch; in der Interlinearversion steht das Gedicht in Wörterbuchdeutsch geschrieben; die Nachdichterin schließlich hat ihr Gedichtdeutsch zur Verfügung. Sie fragt sich: Ist es in allen Sprachen dasselbe Gedicht? Erschwerend kommt hinzu, dass die arabische Schrift von rechts nach links geschrieben und gelesen wird…

Brigitte Oleschinski macht des Weiteren auf ein Phänomen aufmerksam, mit dem sich jede Exilautorin, jeder Exilautor auseinandersetzen muss. Sie benutzt dazu ein wunderbar einleuchtendes Wort: Hallraum. Im Fall der Syrierin Lena Atfah schrumpft der Hallraum ihrer Sprache von den potentiell mehreren hundert Millionen Lesern in der arabischen Welt beträchtlich, da Arabisch hier lediglich als Migrations- und Diasporasprache Anwendung findet. Dieser Fakt ist in der deutschen Mehrheitsgesellschaft bislang nicht anerkannt, trifft allerdings auf fast alle Migranten zu. Das zeigt sich z.B. auch in der Diskussion um die Anwerbung ausländischer Fachkräfte für den deutschen Arbeitsmarkt. Umfragen unter Interessenten belegen immer wieder, dass das Erlernen der deutschen Sprache als Einwanderungshemmnis gesehen wird. Flüchtende haben diese Wahl nicht.

Wortwörtlich umgedeutet

Zurück zum Thema. Brigitte Oleschinski sieht in der Übersetzung von Gedichten eine besondere Form des Nicht- oder Missverstehens, bezogen auf den jeweiligen Kontext. Sie macht das an dem Begriff „Wortwörtlichkeit“ fest. Für sie sind Wörter eines Gedichtes in einer bestimmten Weise gesetzt worden, und zwar genau so und nicht anders. Daraus entspringt dann – hoffentlich – ein produktives Missverständnis: Wenn Wortwörtlichkeit der springende Punkt im Original ist, muss sie das in der Übersetzung auch sein. Es kann aber nicht dieselbe Wortwörtlichkeit sein, weil die Übersetzung ja andere Worte dafür hat. Fazit: „Man kann also dasselbe nur sagen, indem man nicht dasselbe sagt.“

Zurück zum Buch. Am Anfang steht das Gedicht „Rückkehr“. Aber beschrieben wird sehr lakonisch die Flucht. Rückkehr meint metaphorisch die Wiedervereinigung des Ehepaares: „Und nun bin ich an deiner Tür/befreit von allem Groll.“ Und ob Lina Atfah nun über das Jahr „2020“ dichtet oder über „Geselligkeit“, die eher über das Gegenteil davon im Alltag informiert, immer ist es eine ausdrucksstarke Sprache, die sich zu Worte meldet. Immer wieder aber geht es um Flucht und Vertreibung. Das kennt man: Jeder Weg wird im Gehen wie in Geschichten immer länger.

Scharfsinnige Lyrik auf unruhigem Untergrund

In „Entlang der Fluchtlinie“ tauchen die Erinnerungen an die Beschwernisse und scheinbar unüberwindlichen Probleme auf der Flucht auf: „Das Bild zeigt die Tragödie der Mutter/auf einen Blick.“ Kann es noch schlimmer kommen? Es kann: „Aber was uns den Rest gab,/waren die Menschengesichter/unserer Mörder.“ Da ist der Chor der Antigone ist nicht weit weg: „Ungeheuer ist viel, doch nichts ist ungeheurer als der Mensch.“

Aber Lina Atfah feiert einerseits Alexander von Humboldt, andererseits sieht sie in „Amazonas“ den Raubbau an der Natur. Die Lyrikerin lebt in Herne. Da wundert es nicht, dass sie auch den Ruhrpott auf der Flucht vor seinen Zechen in den Blick nimmt. „Letztes Lied des Kanarienvogels“ ist das Gedicht betitelt und erzählt von der Unwirtlichkeit der Ruhrstädte und deren unruhigen Untergrund. Sie versteht zwar den Zwang zur Musealisierung des Raumes, verurteilt aber das „Nicht hören wollen,/wie der Kanarienvogel/nicht mehr singt.“ Der Vogel, der ja mal quasi die Lebensversicherung der Kumpel vor Ort war.

Lina Atfahs Gedichte
gleichen einem traumwandlerischen Tanz auf einer Rasierklinge: Hier Verse, die in präziser Bildhaftigkeit wie Schnappschüsse ihren Fokus auf die zerrissene Heimat Syrien richten, auf Flucht, Vertreibung und Verbrechen. Dort sinnliche Gedichte, die vollgesogen sind von allerlei arabischen Mythen und Geschichten. Und über alldem: eine junge poetische Stimme, die in ihrem Anspielungsreichtum ihresgleichen sucht.

Nino Haratischwili, Pendragon Verlag, Klappentext, 2019

Das Buch enthält nicht nur die Nachdichtungen Brigitte Oleschinskis sondern auch die Originale. Das ist lobenswert. Bedauerlich ist allerdings, dass Original und Nachdichtung nicht nebeneinander stehen. So ist man immer gezwungen, im Buch hin und her zu blättern, wenn man zur Nachdichtung das passende Original sucht.

Noch ein Wort zum ersten Gedichtband Lena Atfahs im Pendragon Verlag. Der erschien 2019 unter dem Titel „Das Buch von der fehlenden Ankunft“. Das Vorwort dazu schrieb Nino Haratischwili. Das kam nicht von ungefähr, denn Nino Haratischwili erhielt 2017 den letztmalig vergebenen Hertha-König-Preis der gleichnamigen Gesellschaft, die sich inzwischen aufgelöst hat. Die jeweilige Preisträgerin durfte ihrerseits eine Autorin für den Hertha-König-Förderpreis benennen. Haratischwilis Wahl fiel auf Lina Atfah. Und so kamen die ersten Gedichte Lina Atfahs, jene, die 2017 im  Künstlerhaus Edenkoben diskutiert wurden, nach Bielefeld.

Autor*in: Uli Schmidt

Seit langem bekannt als "Der Kulturbote" aus Ostwestfalen: So empfängt Uli Schmidt heutzutage seine Gedankenblitze.