Das letzte Konzert

Am 12. März 2020 spielte Sarah Lesch im Forum. Der Abend blieb in Erinnerung, auch weil einen Tag später das Aus für Live-Events dieser Art in NRW in Kraft trat. Foto: Ralf Bittner

Seit März 2020 sind Clubs geschlossen und Indoor-Veranstaltungen in bekannten Formen nicht mehr möglich. Erinnerungen an den Abend, als aus der vagen Ahnung, dass sich etwas grundlegend ändert, Gewissheit wurde.

Es gibt sie, die historischen Daten, die sich mit solcher Wucht in die kollektiven und individuellen Gedächtnisse brennen, dass fast jeder die Frage beantworten kann, wo er an diesem Tag gewesen ist – vorausgesetzt natürlich die Person ist alt genug, sie bewusst erlebt zu haben. Der „Mauerfall“ am 9. November oder der 11. September 2001 sind solche Ereignisse. Und es gibt die stillen Ereignisse, wie den Reaktorunfall von Tschernobyl vom 26. April 1986, die sicher eher schleichend in unser Bewusstsein drängen und erst im Nachhinein in ihrer Dimension erkennbar werden. Manchmal reicht ein Konzertabend, um sich bewusst zu werden, dass Historisches geschieht. So geschehen am 12. März 2020 im Forum.

12. März – war da was?

„12. März – war da was?“, werden vielleicht einige fragen. Es war der Vorabend jenes Freitags, ab dem im Land alle Clubs schließen und der Konzertbetrieb eingestellt werden musste. Dass dieser Freitag auch ein dreizehnter war, mag Zufall sein. Der Donnerstag davor war jedenfalls der letzte Abend, an dem das Corona-Virus noch in China und Italien tötete, in Deutschland aber noch als aggressive Form der Grippe galt. Das Ankündigen der Lahmlegung weiter Teile des Kulturbetriebes holte die Pandemie allmählich auch in die Köpfe der hiesigen Bevölkerung – und so herrschte eine seltsame Stimmung im Saal des Forums.

Die Leipziger Songpoetin Sarah Lesch war angereist, nicht wissend, ob sie das Konzert am Abend überhaupt noch würde spielen dürfen. Sie durfte. Mit Block und Kamera, aber ohne Mund-Nasen-Schutz, denn Abstand – Niesetikette und Händewaschen waren damals die angesagten Maßnahmen zur Eindämmung der Gestalt annehmenden Pandemie – stand ich vor der Bühne. Text und Fotos sind dann gar nicht mehr erschienen, die Kulturberichterstattung wurde vom Virus überrollt. „Das Konzert der Liedermacherin ist wohl bis mindestens Ende April das letzte Konzert in dem Club, der wie alle anderen größeren Spielstätten auch Corona-bedingt die Türen schließen muss“, schrieb ich damals – welch Fehleinschätzung! Jetzt sieht es danach aus, dass ich um Einiges daneben lag und Indoor-Veranstaltungen frühestens ein Jahr später als damals gedacht möglich sein werden – wenn überhaupt.

Vorwegnahme essentieller Fragen mit Banjolele: Sarah Lesch im Forum Bielefeld, Gitarristin: Steffi Narr
Das Taschentuch des Grauens und die Probleme einer anderen Zeit

Zum Glück war der Saal nicht besonders voll, Abstand halten gut möglich. Erst als vor der Bühne ein Tänzer mit unübersehbaren Erkältungssymptomen sein Taschentuch ausladend über dem Kopf kreisen ließ, meldeten sich erste Zweifel. Sie drehten sich um die Frage, ob es womöglich doch keine so gute Idee gewesen sein könnte, sich mit 150 oder mehr Leuten in einen dunklen Saal zu begeben.

Im Vorprogramm spielte der Hamburger Liedermacher Nils Christian Wédtke. in den Pausengesprächen ging es um die Frage, ob der Städtetrip nach Barcelona über Ostern wohl gecancelled werden müsse und – falls ja – wie die Stornierungsregeln aussehen. Probleme einer anderen Zeit.

Songs wie ein Soundtrack zur kommenden Zeit

Lesch spielte Songs von ihrem damals neuen Album „Der Einsamkeit zum Trotze“ und der Vorgänger-CD „Den Einsamen zum Troste“, die sich heute wie ein Soundtrack über das, was kommen würde, anhören. Songs wie Georg Danzers „Die Freiheit“ mit Textzeilen wie: „Nur in Freiheit kann Freiheit Freiheit sein“ oder die gesungene Frage „Wo bleibt die Liebe?“, nahmen essentielle Fragen der nächsten Monate vorweg, etwa die Debatte um die Abwägung von Freiheit und Sicherheit oder die Sehnsucht nach menschlicher Nähe. Mit der mitreißenden Zeile „Ich weiß, dass man die Angst vergisst, wenn man singt“ aus ihrem Song „Da draußen“ lieferte sie den optimistischen Song für den Nachhauseweg. Spätestens da war klar: Das war das letzte Konzert für lange Zeit.

Und irgendwann war an diesem Abend aus einem vagen unguten Gefühl die Erkenntnis geworden, dass sich etwas grundlegend geändert hatte, sich gerade Historisches ereignet. Was genau der Auslöser war? Schwer zu sagen – vielleicht das Taschentuch. Manchmal sind es die banalen Dinge, die aus einer Ahnung Gewissheit machen.

Autor*in: Ralf Bittner

Ralf steht lieber hinter als vor der Kamera, erkundet seine Welt gern zu Fuß und hat ein Herz für Großartiges in kleinen Locations.