Kinder kriegen – Reproduktion Reloaded – Barbara Peveling/Nikola Richter

Foto: Pixaby, Stephanie Pratt

„Kinder kriegen“, so eindeutig der Titel dieser Anthologie erscheinen mag, ist nicht nur ein außergewöhnlich relevantes Buch, sondern zugleich im besten Sinne gleichberechtigt. Denn in Reproduktion Reloaded geht es zwar um das „Kinder kriegen“, aber mindestens ebenso um die Tatsache, dass dieses Phänomen Männer ebenso betrifft wie Frauen. Die Herausgeberinnen Barbara Peveling und Nikola Richter haben einen vielstimmigen Chor ganz unterschiedlicher Stimmen versammelt. Beiträge, die allesamt Fragen aufwerfen, die uns als Gesellschaft angehen.

Gleichberechtigte Texte über die Komplexität der Reproduktion

Einig sind sich die Texte höchstens in der Ansicht, dass Kinder zu bekommen die natürlichste Sache der Welt sei. Aber deswegen noch lange nichts, worüber außerhalb der Paargemeinschaft nicht diskutiert werden müsste. Denn der Kinderwunsch und das Leben mit Kindern ist immer wieder eine weitreichende Entscheidung, umso weitreichender weil sie nicht nur den Körper der Frau betrifft, sondern auch zahlreiche gesellschaftliche Erwartungen und Rollenzuschreibungen, weil ein Kinderwunsch auch bestehen kann, wo kein Frauenkörper eine Rolle spielt, und weil nicht jeder Frauenkörper automatisch mit einem Kinderwunsch gekoppelt ist. Es ist alles andere als einfach, sich die Veränderungen bewusst zu machen, die damit einhergehen, plötzlich als Eltern zu leben, und die Frage der Reproduktion ist niemals eine rein individuelle, sondern immer gleichzeitig gesellschaftlich relevant. Und so einzigartig die Texte, die zumeist biografisch und bewundernswert aufrichtig von der eigenen Verortung und Verwicklung in diesem Themenkomplex erzählen, auch sind, ist ihnen gemein, dass sie neben aller Individualität auch von gesellschaftlichen Einflüssen erzählen, von der Vielfalt der gesellschaftlichen Relevanz.

Individuelle Entscheidungen ferngesteuert vom Zeitgeist

Jeder Beitrag erzählt bei aller Individualität von dem Bewusstsein, dass Kinder zu bekommen einen Rattenschwanz an Erwägungen, Veränderungen, Vor- und Nachteilen nach sich zieht, den sich Eltern bewusst machen (müssen), bevor sie eine Entscheidung treffen.

Dabei geht es um den Einfluss, den das Alter auf die Elternrolle spielt. Um den gesellschaftlichen Druck, insbesondere auf Frauen. Aber auch um den jeweiligen Zeitgeist, der es Männern erlaubt, Worte zu finden oder eben nicht, wie der beeindruckende Text von Egon Koch demonstriert, der vor 40 Jahren keine Alternative dazu sah, seiner Partnerin die Entscheidung über eine Abtreibung zu überlassen: „Ja, es war ihr Bauch. Entscheidung ist wohl das falsche Wort. Wir waren ferngesteuert.“

Antje Schrupp setzt sich in ihrem Text mit dem unhinterfragten Phänomen des „Schwangerwerden könnens“ auseinander. Strukturpolitisch fundiert erklärt sie wie weitreichend sich eine Tatsache auswirkt, die eine Fülle von Fragen aufwirft, über die wir uns als Gesellschaft kaum auseinandersetzen.

Aufrichtig, schmerzhaft, allumfassend und vor allem diskussionswürdig

Fragen, die darüber hinausgehen und gleichzeitig damit zu tun haben, dass die Rollenerwartungen an Männer und Frauen diffuser und unübersichtlicher geworden sind. Was keinesfalls mehr Freiheit für die Eltern bedeutet. Nicht zuletzt weil wir als Gesellschaft von einer Vereinbarkeit von Familie und Beruf immer noch weit entfernt sind.

Nichts wird in dieser Anthologie ausgespart, weder Leihmutterschaft noch Reproduktionsmedizin, oder das Tabu, über tote Kinder zu reden, über Fehl- und Totgeburten. Darüber, wie es sich mit einem toten Kind lebt, und damit, dass die Mutter damit irgendwann sehr allein ist. Julia Faust hat dazu einen schmerzhaft wahren Text geschrieben. Dennoch: trotz all der Schwere, trotz der Fülle an längst noch nicht überwundenen Problemen, ist Kinder kriegen unterhaltsam, man liest die Beiträge gerne, weil sie so lebensnah, aufrichtig und allesamt gut geschrieben sind.

Auf bedrückende Weise erhellend sind auch die Texte über Rassismus und Sexismus, der von innen oder außen die Familie angreift, geschrieben von Andrea Karimé und Ulrike Draesner, die ihre Geschichte vom Leben mit einem nichtgrünäugigen Kind in die Möglichkeit zu Offenheit und Verbundenheit münden lässt, wenn sie in Aussicht stellt, „[…] dass die Frage: Wo kommst du (eigentlich) her? ersetzt wird durch die Frage: Wo wollen wir hin? Wir, zusammen.“

Nicht nur in diesem Sinne ist es sehr stimmig, dass die Textsammlung mit einem kollektiven Text des Netzwerkes WRITING WITH CARE/ WRITING WITH RAGE abschließt, denn um Einigung oder Einigkeit kann und soll es in diesem Buch nicht gehen, sondern um Gesprächsbeiträge, die in ihrer Offenheit Widerspruch und/oder Ergänzung hervorrufen. Nicht um am Ende ein vollständiges Bild entstehen zu lassen, aber um die Grundlage für eine fundierte Auseinandersetzung bereit zu stellen.

Autor*in: Elke Engelhardt

Schreibt mit nicht nachlassender Begeisterung über Bücher. Ganz selten schreibt sie selbst eins.