Lesen und lesen lassen

Lyrik, Prosa und ein Kolumnenbuch: Drei lesenswerte Neuerscheinungen aus der literarisch umtriebigen Region

Es gibt in OWL eine erstaunliche Anzahl sehr produktiver Autor*innen, wie nicht zuletzt die im zwölften Jahr erscheinende Literatur-und Kunstzeitschrift “Tentakel” regelmäßig beweist. Drei Neuerscheinungen aus diesem Jahr zeigen exemplarisch das thematische Spektrum, die verschiedenen Spielformen und das gute Niveau der regionalen Literaturszene.

Was die Erzählungen von Birgitta M. Schulte, die Gedichte von Erica Natale und die Kolumnen von Stefan Brams eint, ist, dass es in ihnen um Ängste und Sehnsüchte, Verzweiflung und Trost, um das Verlieren und Finden von Worten, um das Leben in seiner Fülle geht. Nicht zuletzt um die “zutiefst menschliche Suche nach dem ganz großen Glück.” So steht es auf der Rückseite von Birgitta M. Schultes Erzählband “Findungen” und so gilt es für die beiden anderen Bücher auch.

Findungen

16 Geschichten versammelt die seit 2015 in Detmold lebende, in Ostwestfalen aufgewachsene Autorin in diesem Buch, und bereits die erste, “Braut und Brüste”, lässt aufhorchen. Ein Mann streift da mit Rucksack und Schreibheft ziellos durch die Gegend, landet in einem verlassenen Garten, legt sich auf eine Liege und versucht, da er sich selbst als Schriftsteller definiert, eine literarische Idee zu notieren. Statt dessen denkt er an Brüste unterschiedlicher Art, an bizarre Busenfotos aus dem Internet ebenso wie an das Dekolleté der heiligen Agathe von Cania. Offenbar hat der Mann Probleme mit Frauen oder sie mit ihm. Denn außer zu seiner esoterischen Tante fehlt ihm da irgendwie der direkte Bezug.

Es ist nicht leicht und macht die Spannung dieser Story aus, die wie andere Texte des Buches eher das Stimmungsbild eines Menschen in einer bestimmten Situation nachzeichnet als ein Geschehen wiederzugeben, ihren Erzählton einzuordnen. Ist das Lakonie? Leiser Spott? Es liegt insgesamt etwas Distanziertes, Beobachtendes in Schultes Stil, das durch die in den meisten Geschichten verwendete personale Perspektive noch verstärkt wird. Aber einen Verrat an ihren Figuren übt die Autorin nie, auch nicht an dem rätselhaften Außenseiter, von dem in “Braut und Brüste” die Rede ist.

Sexualität, Politik und Religion

Und nein, es geht in dieser Geschichte so wenig wie in den anderen um Erotik, auch wenn es im Klappentext so ankündigt wird; es geht um Sexualität. Es geht darum, mit wie vielen Ängsten und Tabus sie belegt ist, wie einfach sie manchmal funktioniert und wie selten sie sich als tauglich erweist, wenn sie der einzige Kitt einer Beziehung ist. Um ihrer Bedeutung für das menschliche Zusammenleben und auch für das seelische Befinden des Individuums auf die Spur zu kommen, schickt die Autorin ihre Figuren auf die Suche nach Begegnungen, Abenteuern, lässt Männer und Männer zusammenkommen, Männer und Frauen, Frauen und Frauen. Dabei streift sie an verschiedenen Handlungsorten auch spirituelle Themen und politische.

Besonders lesenswert sind zum einen die titelgebende, in Slowenien spielende längere Erzählung “Findung”, in der es um die Rolle der Partisanen im 2. Weltkrieg geht. Und zum anderen die Geschichte “Liebe im Rhythmus der Horen”, die das griechische Kloster Ghiatrissa zum Schauplatz hat und von einer Männerliebe handelt, von Glaubenszweifeln, Lebensgewissheiten, Desillusionierungen. Detailreiche Beschreibungen der Klosteranlage lassen vermuten, dass die Autorin diesen Ort wie auch Ljubljana und Umgebung besucht hat und kennt. Die auf diese Weise gewonnene atmosphärische Dichte macht neben der leisen Skurrilität der Figuren die Qualität ihrer Erzählungen aus.

Freundliches Helldunkel

Während es sich bei Birgitta M. Schultes “Findungen” also auch um Er-Findungen handelt – erfundene Geschichten über Personen, die sicherlich den einen oder anderen biographischen Zug der Autorin tragen, aber hauptsächlich fiktiv sind – , haben die Gedichte der 1973 in Turin geborenen Autorin Erica Natale in höherem Maße persönlichen Charakter.

Als eine Art lyrisches Tagebuch gewähren die in der Zeit zwischen 2010 und 2016 entstandenen, nun unter dem Titel “Freundliches Helldunkel” herausgegebenen Texte der im Bielefelder Westen beheimateten Autorin berührende Einblicke in die unterschiedlichen Seelenstimmungen eines empfindsamen lyrischen Ichs. Ein Ich, das liebt und verletzt wird, ein Frauen-Ich, ein Mutter-Ich, vor allem ein schreibendes Ich, das in den meist nicht mehr als zwanzig Zeilen langen Texten Eindrücke, Gedanken und Gefühle zu poetischen Bildern verdichtet, die das Durchlebte, manchmal Durchlittene, greifbar machen, fassbar, vielleicht auch aushaltbar, zumindest leichter zu verarbeiten. So hat es den Anschein beim Lesen.

Der Grundton dieser Gedichte ist eher dunkel, obwohl auch von schlichter Augenblicksfreude, tiefem Glück die Rede ist. Besonders in den Gedichten, die dem neugeborenen Kind gewidmet sind und mitunter in eine ansteckende Ausgelassenheit münden. So in “Dada 2011”: Süßes Baby, kleiner Dadaist, /legt Zuckerwürfel in den Kochtopf/ und wirft Jonglierbälle/in die Toilette, den Radiergummi,/steckt er in die Blumenvase,/jedes Ding lebendig, alles ist dada/und alles interessant: kein/schönerer Unfug auf der Welt.

Trost gewährt auch die Natur dem lyrischen Ich. Immer wieder taucht das innere Ruhe spendende Bild des Kirschbaums auf, und ein ganzes, im Oktober 2015 auf Wangerooge entstandenes Kapitel ist dem Meer gewidmet. Doch auch hier bricht sich einmal wilder Schmerz Bahn und branden die Themen Trennung, Einsamkeit, Selbstzweifel, unerfüllter Freiheitsdrang, die Fesseln, die jede Mutterschaft bedeutet, die Sorge um das Kind und der vorauseilende Abschied auf wie eine unaufhaltsame Welle. Es bewegt, in diese seelische Auseinandersetzung über das Mittel der gebundenen Sprache lesend miteinbezogen zu werden. Und erforderte von Erica Natale auch eine mutige Bereitschaft dazu, von der man an manchen Stellen erahnen kann, dass sie schwer gefallen ist.

Lesen gegen die Angst

Mit Einblicken in die Privatsphäre hatte Stefan Brams hingegen keine Probleme, als er im Frühjahr anfing, aus dem Home-Office eine tägliche Kolumne in die Welt zu schicken. Im Gegenteil, gerade über die eigene Person, so die Idee des NW-Kulturchefs, könnte er Leser*innen vielleicht auf seine Weise in der Coronazeit beistehen.

Ein Plan, der zu seiner eigenen Überraschung in überwältigender Weise aufging. Denn ursprünglich verfolgte der Literaturliebhaber mit der Kolumne lediglich das Ziel, anhand des heimischen Bücherregals Lektüretipps für die ins Haus stehenden Wochen des Lockdowns zu geben. Doch dann entwickelte das Projekt im Nu eine Eigendynamik, begann sich doch im ostwestfälischen Gemüt unversehens ein geradezu rheinländischer Kommunikationsdrang zu regen.

Es dauerte nicht lange, da konnte sich Brams vor Zuschriften und Leseempfehlungen kaum noch retten, und das Schöne war, dass die Leser*innen auch untereinander ins lebhafte Gespräch kamen. Diese Kolumnen, vermittels derer am Ende über 220 Menschen in den Literatur-Dialog getreten waren, sind nun unter dem Titel “Lesen gegen die Angst” im Bielefelder Kunstsinn-Verlag aufgelegt worden.

Ein Buch, das nicht zuletzt dank seiner sorgsamen Dokumentierung der ins Gespräch gebrachten und diskutierten Bücher ein spannender Beitrag zur Kultur- und Zeitgeschichte ist. Und Wolfgang Braungarts Nachwort-Essay Lesen in Zeiten von Corona “Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen?” ist das Tüpfelchen auf dem i. Wie man es von dem Bielefelder Literaturwissenschaftler kennt, vermag er auch in diesen unbedingt empfehlenswerten Ausführungen eine schöne, ruhige, gedanklich für alle nachvollziehbare Brücke zu schlagen von Stefan Brams’ Kolumnen und den Zuschriften der Zeitungsleser*innen hin zu dem existentiellen Ringen eines Rainer Maria Rilke in den Duineser Elegien. Auch das verdanken wir Corona. Einen in geistige Tiefen reichenden, nicht-elitären Austausch über Bücher und die Entdeckung der Mit-Menschlichkeit. Oder mit Rilke gesprochen: einen Streifen Fruchtland zwischen Strom und Gestein.

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.