Halt und Ermutigung

Getröstet vom geschriebenen Wort: Ernst Barlachs "Lesender Klosterschüler" von 1930 (Foto: Pixabay)

Wir sind dünnhäutig geworden, bedürftig. An manchen Morgen haben wir das Gefühl, mit hängendem Kopf aufzuwachen. Selbst die Robusten unter uns erfahren die Zumutungen der Zeit an der eigenen Seele. Was hilft? Menschlich in Verbindung bleiben und einander geistig beistehen. Den Intellekt wach halten. Die eigenen Bordmittel mit Gleichgesinnten teilen. Lesen zum Beispiel und sich austauschen über das geschriebene Wort. Eine Aufgabe, der die Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart, Kai Kauffmann und Meinolf Schumacher von der Universität Bielefeld im Rahmen der Veranstaltung Literarische Gesellschaft digital unter dem Titel “Vom Trost der Literatur” mit Freude nachkamen.

So viel wusste das Trio mit Sicherheit: Die Weltliteratur hält einigen Trost bereit. Denn natürlich sind wir nicht die ersten, die leiden. Doch seit wann wird in der europäischen Geistgeschichte überhaupt von Trost gesprochen? Und in welcher Weise kann die Dichtung von damals uns heute Zuspruch liefern?

Trost als Schutz vor Verzweiflung

Zwei gegensätzliche Standpunkte, die den Diskurs über die Aufgabe von Literatur gegenwärtig beherrschen, dienten den Forschern als Grundlage ihrer Debatte. Literatur spendet Trost, lautete die eine Haltung, lesen macht nicht immer glücklich, die andere. Der Mediävist Schumacher nahm die Kontroverse zum Anlass, die Funktion von Literatur historisch zu beleuchten und zunächst einmal der Frage nachzugehen, was Trost grundsätzlich bedeutet.

Trost, so führte er aus, setzt da ein, wo tätige Hilfe nicht mehr möglich ist oder scheint und ein zweifellos vorhandenes Problem ertragen und mitgetragen wird. Dabei geht es weniger um das was als um das wie. Um das richtige Setzen von Worten, das Ausführen einfacher menschlicher Gebärden. Nicht von ungefähr wird kaum etwas so schmerzhaft vermisst in der gegenwärtigen Krise wie die Geste der Umarmung. Trost, so fasste Meinolf Schumacher in seinen konzentrierten, wie eine Abend-Vorlesung konzipierten Ausführungen zusammen, schützt vor Verzweiflung. In der Antike, etwa bei dem römischen Philosophen Seneca, wurde es als Lernprozess begriffen, bei Trost zu sein. Im Mittelalter – als Mediävist sein Fachgebiet – war die Kraft des Wortes Gegenstand der Rhetorik.

Trost als Erfindung des Protestantismus

Erst mit Luther und den Anfechtungen der Reformation wurde der Trost gezielt in der christlich-abendländischen Tradition verankert. Der entmutigte Mensch sollte in den Übersetzungen und Lieddichtungen Luthers eine innere Aufrichtung erfahren. Der Reformator war es, der das Wort Paraklet im Johannes-Evangelium mit der Tröster übersetzte und diesen Namen nicht nur auf den heiligen Geist, sondern auch auf Jesus Christus selbst anwandte.

Sich getröstet fühlen konnte sich der Mensch im Mittelalter aber auch von Gottfried von Straßburgs “Tristan”, so Schumacher weiter. Wie das? Der um 1210 entstandene und Fragment gebliebene Versroman in mittelhochdeutscher Sprache variiert den Tristan und Isolde-Stoff, und das ist bekanntlich keine glücklich endende Liebesgeschichte. Trost funktioniere aber nach Ansicht des Literaturwissenschaftlers in diesem Fall über den inneren Nachvollzug der Arbeit, die der Dichter hier gewissermaßen stellvertretend geleistet habe, indem er seinen Schmerz, sein Herzeleid, mittels Phantasie überwunden habe.

Unabhängig von der Frage nach dem tröstenden Gehalt tragischer Liebesgeschichten, der Kai Kauffmann in seinem Referat später anhand Goethes “Werther” ebenfalls nachging, wird Trost, der das Übel akzeptiert und letztlich affirmativ ist, vom kritischen Bewusstsein inzwischen mehrheitlich abgelehnt. “Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar”, hat Ingeborg Bachmann formuliert, und über die Aufgabe, die sie Literatur damit zuordnete, wurde im Lauf des Abends angeregt diskutiert.

Leid und Trost als Motor des Schreibens

Schriftsteller sehr unterschiedlicher Natur haben sich durch die Jahrhunderte mit dem Thema Trost auseinandergesetzt, und von etlichen ist überliefert, dass es das eigene Schreiben per se war, das Leidlinderung bedeutete. Lyrik-Liebhaber Wolfgang Braungart stellte drei Gedichte aus unterschiedlichen Epochen vor, die das menschliche Trostbedürfnis direkt ansprachen. Das älteste, Paul Flemings “An sich”, gab im 17. Jahrhundert im Stil des Neu-Stoizismus lyrische, beinahe mantrisch klingende Handlungsanleitungen für ein gelingendes Leben, die wir heute als selbstwirksam beschreiben würden. Sie wiederholt zu lesen, sie laut zu sprechen, sorge für Besänftigung und innere Ruhe, so Wolfgang Braungarts These. Tatsächlich ist Flemings Gedicht ein frühes Zeugnis von Selbstbekräftigung und Selbsttrost. A la mode bis heute.

Während sich der 200 Jahre spätere Mörike in einer offensichtlichen Sinnkrise in Selbstzweifeln und -anklagen geradezu suhlt und auf seine überschreibende Frage “Wo find ich Trost?” an sich die Antwort schon mitliefert: Nirgends. Nicht einmal mehr im Glauben, dem er sich nicht würdig wähnt. Trostlos. Dann doch lieber der Zeitgenosse Günter Eich, der mit “Ende eines Sommers” in bester Brecht’scher Tradition und wunderbaren lyrischen Bildern den Trost der Bäume besingt und im Angesicht des Schicksals ruhig zu Geduld aufruft. Melancholisch-abgeklärte Zeilen mit leichter Transzendenz, die zu lesen eine balsamartige Wirkung haben. Uns tun sie momentan sehr gut, Eduard Mörike hätten sie auch gut gutgetan.

Der Trost in der Weltliteratur

Kai Kauffmann schließlich richtete seinen Fokus auf einige klassische Werke der Weltliteratur, um den Trost in ihnen aufzuspüren. Obwohl es angesichts der Kürze der Zeit und der Fülle des Materials ja nur ein flotter Ritt sein konnte, den der Bielefelder Germanist durch die ausgewählten Romane machen konnte, gelang es auch ihm, das Thema des Abends unterhaltsam zu modellieren. In seiner Auswahl drei Werke, von denen zwei das Trost-Siegel bekamen, eines entschieden nicht. Pech gehabt, Monsieur Flaubert. “Madame Bovary” und vor allem die programmatische Verweigerung jeglichen Trostes, die der Autor beim Verfassen walten ließ, disqualifizierte das Werk in den Augen Kauffmanns. Zumindest für den Themenabend. Goethes “Werther” mit seiner geschickt konstruierten Erzählerfigur, die sich erst für Werther erwärmt und sich dann distanziert, fand in den Augen des Fachmanns hingegen ebenso Gnade und Anerkennung in Sachen Trost wie Fontanes Alterswerk “Der Stechlin”.

“Alle Worte, die von Herzen kommen, richten mich auf.” Mit diesem schönen Credo brachte Kauffmann den Abend auf den Punkt und sprach nicht nur den Kollegen, sondern auch vielen Zuhörenden aus der Seele, wie die anschließende Diskussion zeigte. Literatur tröstet. Endlich bleibt nicht ewig aus.

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.