Ein freies Frauenleben

Mit dem Erzählband "Im fünften Koffer ist das Meer" gab Maria Bosse-Sporleder 2013 ihr Debüt als Schriftstellerin. Nun legt die 1932 in Talinn geborene Germanistin, Romanistin und renommierte Virginia Woolf-Übersetzerin noch einmal nach. "Im Kielwasser der Zeit" versammelt erneut autofiktive Kurzprosa, die Geschichte und Geschichten kunstvoll verzahnt. (Foto: Antje Doßmann)

Der Mantel der Geschichte wird aus Fakten, aber auch aus Fiktionen gewebt. Wie Menschen in einer bestimmen Zeit emotional und geistig verfasst sind, an welchen Werten sie sich orientieren oder wie das Verhältnis zwischen den Generationen und Geschlechtern ist, vermögen uns gut erzählte Geschichten meistens eindrücklicher zu vermitteln als die leblosen Materialsammlungen der Forschung und Wissenschaft. Daher ist ein autofiktives Zeitzeugnis, wie es die 1932 in Talinn, damals Reval, geborene Schriftstellerin Maria Bosse-Sporleder mit ihrem aktuellen Buch “Im Kielwasser der Zeit” liefert, so wichtig für das Verständnis geschichtlicher wie auch gesellschaftlicher Prozesse.

Denn die Frage nach der Identität, die nahezu jedem literarischen Werk in irgendeiner Weise zugrunde liegt und auch bei Bosse-Sporleder eine – wenn auch nicht ständig thematisierte – Rolle spielt, schließt die Frage nach den Einflüssen und Prägungen der Zeit mit ein. Wer wie die Autorin neunzig Lebensjahre überblickt, kann sich beim Erzählen aus einem mit Erinnerungen und Erfahrungen reich gefüllten Speicher bedienen. Wie bereits in ihrem ersten Buch “Im fünften Koffer ist das Meer” (2013) stellt Maria Bosse-Sporleder auch in ihrem aktuellen Buch deutlich autobiografisch geprägte Episoden gleichberechtigt neben frei erfundene Geschichten.

Was Wahrheit ist und was Dichtung in den insgesamt 37 Kurzprosatexten, die mal im personalen Erzählstil, mal in der Ich-Form verfasst sind, verliert sich dabei bisweilen in Unschärfe. Wenngleich die Unterteilung in einen Abschnitt, der “Herkunft” heißt und einen, der mit “Begegnung” überschrieben ist, schon einen Hinweis gibt in die jeweilige Richtung.

“Herkunft” versammelt in erster Linie literarisch verarbeitete Erinnerungen an Estland, das die Autorin im Alter von sieben Jahren verlassen musste. Die eigene, sorgfältig rekonstruierte Familiengeschichte dient ihr hier als Folie, um an die wechselvolle politische Geschichte Estlands zu erinnern und besonders an die 1944 von schweren Bombardements zerstörte Hauptstadt, in die sie nach Estlands 1991 errungener Unabhängigkeit von der Sowjetunion als Dozentin für Deutsch und Reiseleiterin mehrfach zurückkehrt.

Ebenso spannend wie berührend sind die Episoden, die Maria Bosse-Sporleder aus dem Leben ihrer Vorfahren erzählt. Ihr sicheres Gespür für das literarische Potential bestimmter Ereignisse im Leben etwa der Großmutter mütterlicherseits macht “Im Kielwasser der Zeit” zu einem überaus lesenswerten Buch. Es ist anzunehmen, dass der Freiburger Autorin, deren Tochter Katharina Bosse im Übrigen als Bildende Künstlerin, Fotografin, Galeristin und FH-Professorin in Bielefeld und weit darüber hinaus bekannt ist, beim Schreiben ihre langjährige Tätigkeit als Leiterin verschiedener Schreibwerkstätten zugute kam – zumindest was die Einschätzung betrifft, welche der autobiografischen Texte über das Persönliche hinaus Relevanz haben auch für andere.

Die im zweiten Teil des Buches mit “Begegnung” überschriebenen Kurzgeschichten, die wie z.B. die Erzählung “Die Nachbarin” mitunter fragmentarischen Charakter haben, als wären sie Teil eines größeren Romanprojekts, kreisen im Kern um das Thema mutiger weiblicher Lebensverwirklichung und die im Hintergrund auftauchende Frage, wann sie gelingt bzw. woran sie scheitert.

Wieder nimmt die Autorin hierbei das eigene Leben mit frühen Stationen in Talinn, Posen, Bad Kissingen, dem kanadischen Edmonton, Montreal, Paris und New York zum Ausgangspunkt für ihre zwischen großer Lebensfreude, Libertinage, Sehnsucht, Schutzbedürfnis und Ehrgeiz changierenden Geschichten. Sie zeugen von innerem Junggebliebensein, lebenslanger Neugier und Offenheit, anhaltender Liebes- und Abenteuerlust. Und man möchte der Autorin beim Lesen immer mal wieder innerlich Beifall spenden ob ihres nicht nachlassenden Willens, der Welt wach und springlebendig entgegenzugehen.

Manche der erinnerten (oder imaginierten) Begegnungen, etwa mit liierten, vorgesetzten, sich schlecht benehmenden Männern, sind schmerzhaft zu lesen; die meisten jedoch haben einen inspirierenden und frauenstärkenden Effekt. Sehr gut. Daran wollen wir uns ein Beispiel und Maria Bosse-Sporleders schönes Buch zum Anlass nehmen, das erste von ihr ,”Im fünften Koffer ist das Meer”, auch noch einmal zu lesen. Es lohnt sich. Beides.

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.