Prediger der Literatur

Abbas Khider mit Jürgen Keimer auf den Poetischen Quellen 2020, Foto: Elke Engelhardt
Mit Abbas Khider „Palast der Miserablen“ und Frank Witzels „Inniger Schiffbruch“ präsentiert Jürgen Keimer zur Mittagslesung unter dem Motto „Literatur und Widerstand“, zwei aktuelle Romane und zwei Autoren, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Abbas Khider erscheint sichtlich gut gelaunt, erzählfreudig und auskunftsbereit zur Lesung aus seinem aktuellen Roman „Palast der Miserablen“. Khider , der vor mittlerweile 20 Jahren nach einer langen Flucht zunächst in Bayern strandete, obwohl sein ursprüngliches Ziel Schweden gewesen war, schreibt seine Romane mittlerweile auf Deutsch. Nicht zuletzt “Deutsch für Anfänger”, ein Buch dessen Niederschrift ihm großen Spaß gemacht habe, das aber nach dem Erscheinen nicht von jedem als Satire erkannt worden ist

Anekdotische Erzählungen vom Leben am Rand der Gesellschaft

Mit gekonnt anekdotischen Erzählungen berichtet der Schriftsteller von einem Leben am Rand der Gesellschaft, bevor er auf seinen Roman kommt, der ebenfalls von Menschen am Rand handelt. Erzählt aus der Perspektive eines Kindes wird hier die Übergangszeit zwischen dem Ende des Krieges zwischen Iran und Irak und dem Beginn des Golfkrieges als Wirtschaftswunder mit paradiesischen Zügen, als „Ära der Bananen“ beschrieben. Vielleicht eignet sich die kindlich naive Darstellung der komplexen und tragischen Umstände, die von einem Krieg zum nächsten führten, besonders gut, um Außenstehenden ein Bild vom Nahen Osten zu vermitteln. Auf jeden Fall ist Khider immer an unterschiedlichen Perspektiven interessiert, wobei ihn die kindliche besonders fasziniert. In diesem Zusammenhang erzählt er eine Begebenheit mit seinem 6jährigen Sohn, der, nachdem in einem Bericht über seinen Vater erwähnt wurde, dass dieser mehrmals inhaftiert wurde, stolz jedem Passanten davon erzählte, dass sein Vater schon 11 Mal im Gefängnis war. Auch das vielleicht eine Art von Widerstand gegen gängige Zuschreibungen.

Acht Männer in der Wohnung eines Blinden errichten den Palast der Miserablen

Absurd jedenfalls sind die Situationen, die in Khiders Roman erzählt werden, zum Beispiel, wenn einer der Protagonisten die Schöpfungsgeschichte auf eine etwas andere Weise erzählt, im „Palast der Miserablen“, der aus acht literaturbegeisterten Männern in der Wohnung eines Blinden besteht. Dabei versteht Khider nicht nur sehr unterhaltsam zu lesen, sondern zugleich zahlreiche Informationen über die komplexe politische Gemengelage seines Herkunftslandes zu liefern, aber auch Einblicke in seinen persönlichen Hintergrund zu geben. So wurde der sehnliche Wunsch von Abbas Khiders Vater, eines Tages einen Iman in der Familie zu haben, trotz 10 Kindern auf eine andere Art wahr. Zunächst bemühte sich Abbas Khider zwar um die Religion, und glaubte, wie es überliefert ist, dass Allah selbst den Koran geschrieben hätte, traf dann aber auf einem Basar einen Mann, der ihm das Buch „Der Prophet“ von Khalil Gibran gab. Khider las das Buch und entdeckte: „Es gibt einen Menschen, der besser schreibt als Gott.“ Daraufhin wandte er sich der Literatur zu, und ist letztendlich doch ein wenig ein Prediger geworden: ein Prediger für die Literatur.

Andreas Rötzer als Ersatz für Frank Witzel mit Moderator Jürgen Keimer, Foto: Elke Engelhardt
Andreas Rötzer als Vertretung für den vom Rad gefallenen Frank Witzel

Als Vertreter für den unfallbedingt verhinderten Frank Witzel ist sein Verleger Andreas Rötzer nach Bad Oeynhausen angereist. Rötzer ist eher ein Verkünder im Hintergrund, einer, der dafür sorgt, dass Jahr für Jahr großartige Bücher erscheinen, ohne dabei allzusehr selbst in Erscheinung zu treten. Bücher wie „Inniger Schiffbruch“, mit dem Witzel abermals für den deutschen Buchpreis nominiert ist. Ein Buch das vom Abschied von den Eltern handelt, von einem schwierigen Abschied, weil ebenso wie zu Lebzeiten der Eltern die Nähe gefehlt hat, nach deren Tod keine Trauer aufkommt. Witzels neuestes Buch ist weniger ein Roman, als vielmehr eine gelungene Mischung aus Essay, Tagebucheinträgen des Vaters, autobiografischen Erinnerungen sowie Träumen und Albträumen, die beim Lesen den seltsamen Sog einer leicht irrealen, surrealen Atmosphäre aufkommen lässt, und die Leser*innen zurückwirft auf eigene Erfahrungen. Es geht in diesem Buch abermals um die Rekonstruktion des untergegangenen Westdeutschlands, mit dem die Trilogie, die mit „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager“ ihren Anfang nahm, fortgesetzt durch das zwei Jahre später erschienene „Direkt danach und kurz davor“, ihren Abschluss findet.

Abbild der Erinnerung des untergegangenen Westdeutschland

Die von Rötzer vorgetragenen Stellen verdeutlichen, wie Bedauern an die Stelle der Trauer tritt, mehr noch aber wie das Schreiben den Autor selbst zu spalten scheint, es entsteht eine seltsame Distanz zwischen fehlenden Gefühlen und einer erstaunlich nüchternen, subjektiv aufrichtigen Analyse, bei der Themen auftauchen, um sogleich wieder zu verschwinden, oder zumindest zu verschwimmen. Diese Art zu schreiben, sei, so Rötzer, ein Abbild der Erinnerung, wie sie wirklich funktioniert. Gleichzeitig leisten Witzels Bücher mit der peniblen Abarbeitung und Auseinandersetzung mit dem Nachkriegsdeutschland einen wichtigen Beitrag zum kollektiven Gedächtnis, indem Witzel eine Wahrheit findet, „[…] die mich nicht frei machte, sondern im Gegenteil die ohnehin schon vorhandene Skepsis mir selbst und meinem Leben gegenüber noch vergrößerte.“

Nicht zuletzt ist dieses Buch eine Ermutigung zum Anzweifeln der eigenen Erinnerung. Eine Achterbahnfahrt der Gedanken, die voller subtilem Humor steckt.

Autor*in: Elke Engelhardt

Schreibt mit nicht nachlassender Begeisterung über Bücher. Ganz selten schreibt sie selbst eins.