Voluptas oder die Grenzen des Vergnügens

Uraufführung Ensemblestück "Voluptas & Die hungrigen Kinder", von links: Susanne Schieffer, Cornelius Gebert, Carmen Priego, Foto: Philipp Ottendörfer

Das Ensemble des Theaters Bielefeld hat nach “PReVolution” seine zweite Produktion in Eigenregie realisiert. Ursprünglich sollte “Voluptas & Die hungrigen Kinder” ein freudiges Spiel mit einer Überfülle an Möglichkeiten sein, aber dann kam Corona, dann kamen die Hygienevorschriften und Einschränkungen. Grenzen, die den Rahmen der Möglichkeiten enger zogen, nicht aber die Notwendigkeit, einander Geschichten zu erzählen.

Davon blieben Mareen Biermann, Brit Dehler, Greta Dietz, Cornelius Gebert, Lukas Graser, Doreen Nixdorf, Ilknur Özcan, Carmen Priego, Susanne Schieffer, Alexander Stürmer und Carmen Witt, die dieses Mal für Text, Inszenierung, Film, Bühne, Kostüm und Musik verantwortlich waren, überzeugt. Ihr gemeinsam erarbeitetes Stück erzählt Geschichten vom Leben und wie es zu dem geworden ist, was es jetzt gerade ist. Dabei werden die Geschichten des Einzelnen zur Geschichte von uns allen. Geschichten von Auseinandersetzungen, Vergänglichkeit, von Hoffnungen und Fallen, die wir selbst bauen und dann vergessen. Geschichten, die in Installationen münden, die sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit „Zeitwenden“ beschäftigen, zusammengehalten von der Überzeugung oder wenigstens der Hoffnung: „Alles Getrennte wird sich wiederfinden. Das Paradies ist zwar verriegelt und der Cherub direkt hinter uns, aber wir müssen eine Reise um die Welt machen und sehen, ob das Paradies vielleicht irgendwo weiter hinten wieder offen ist“.
Und ob man es mit Fragen öffnen kann, zum Beispiel der Frage, wie Liebe funktioniert , wie Männer und Frauen miteinander leben können. Der Frage, wo der Platz des Menschen ist, zwischen Natur und Kultur, zwischen Aneignung und Bewahren. Welche Rolle spielen die Tiere? Und was haben Hölderlin und Canetti dazu zu sagen?

Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben

Auf der dunklen Bühne steht eine weiße Badewanne, aus der dunkle Hosenbeine baumeln. Die Beine gehören zu Susanne Schieffer, die die erste Szene bestreitet. Ein feministischer Monolog, wobei der angeklagte Mann auch für das gesamte Gesellschaftsystem stehen kann. In der folgenden Szene betrauert Alexander Stürmer den Verlust einer Frau. Unter der Vorgabe, Chronist zu sein, demonstriert seine Figur, wie wir alle unsere Geschichten, unsere Lebensgeschichten immer wieder umdichten, damit wir sie besser verstehen, damit sie Kontingenz, oder sogar Sinn ergeben. Und wie der Tod eines wichtigen Menschen dazu führt, dass wir einen Teil unseres Selbst verlieren. Ein ernst angehauchtes Spiel mit Geschlechterklischees.

Die dritte Szene spielt Cornelius Gebert, zunächst noch Fuchs, später Anzugträger, erzählt er vom Apostel der Beschränktheit, der uns den Weg leuchtet, und von der Überzeugung, dass der Mensch noch von etwas anderem als sich selbst in Anspruch genommen werden muss.

Die zwischen Horrorfilm, Märchen und poetischem Heldinnenepos changierende filmisch erzählte Geschichte der drei blinden Schwestern, in denen Carmen Priego die Hauptrolle spielt, neben den Tieren, Vogel, Ratte, und Salamander, verspricht für uns an der Wiederverzauberung der Welt zu arbeiten. Die das gesamte Stück durchziehende Parole „wir sind das Volk“, wird hier ergänzt: „Wir lieben nicht mehr – wir sind das Volk“. Spätestens diese Abwandlung macht deutlich, dass dieser Satz nicht lediglich die revolutionäre Kraft der schließlich im Fall der Mauer mündenden Montagsdemonstrationen in Erinnerung rufen will, es klingt darüber hinaus sowohl die Übernahme dieses Spruches durch rechte Kräfte an, als auch die Schuld und Verantwortungslosigkeit der selbstbezogenen satten Wohlstandsbürger in einer trotz des Versprechens auf ewiges Wachstum ständig bedrohten Welt.
Auch der Kapitalismus, in dem Geld gegen Leben getauscht wird, wird in einer Szene zur Diskussion gestellt.

Einladung in das Offene

Das gesamte Projekt besteht aus lediglich lose miteinander verbundenen surrealen Szenen, die einen drängenden realen Bezug aufweisen. Szenen, die mehrheitlich die Frage nach der Verantwortung stellen, und dem Publikum eine Welt in Trümmern zeigen. Schwer, das zu beklatschen, auch wenn es mit Hölderlins Einladung ins Offene schließt.

Die Zuschauer*innen müssen sich in der knapp 80 Minuten währenden Vorführung einlassen auf das Offene, dazu den Anspruch alles verstehen zu wollen, loslassen. Denn die ambitionierte Installation bietet weitaus mehr Fragen als Antworten.

Das Wesentliche versteht man dennoch sehr gut: der unbedingte Wille zur Beherrschung der Welt, die Anbetung der goldenen Kühe, Geld, Profit und Wachstum, hat dem Menschen die Lebensgrundlage längst entzogen. Auch wenn er sich immer noch schwer tut, dieser Tatsache ins Auge zu sehen, geschweige denn Verantwortung zu übernehmen.

Autor*in: Elke Engelhardt

Schreibt mit nicht nachlassender Begeisterung über Bücher. Ganz selten schreibt sie selbst eins.

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