Neue Heimat:Kunst

"Heimwärts – Linienflüge" ist die erste Einzelausstellung von Anna Bella Eschengerd. Foto: Rainer Schmidt

Eine Woche der Explosion des öffentlichen Lebens liegt hinter uns. Termine wahrnehmen, kulturelle Beiträge am Rand aufschnappen, sich im Schatten halten, dabei mit lange nicht gesehenen Akteuren viel Unfug reden. Jetzt muss man was draus machen, und sich schon wieder in Bewegung setzen. Zum Beispiel nach Enger.

Die Widukindstadt ist eine Station der Reihe „Experiment Heimat“. Das vom Literaturbüro in Unna betreute „Interkulturelle Literatur-Fotografie-Projekt“ entsendet jeweils eine Fotograf*in und eine Autor*in – mindestens eine der Personen hat bereits die Erfahrung der Migration oder des Aufwachsens in einer nicht in Deutschland ursprünglichen Kultur – an ihnen nicht vertraute Orte.. Ihr „Blick von außen“ trifft im Rahmenprogramm auf die Aktivitäten der dort lebenden Menschen und Gruppierungen, wie etwa Heimatvereine und kulturelle Institutionen.

Über die Improvisation in die Kunst

Eine neue Heimat in der Kunst gefunden hat die in Enger aufgewachsene Dozentin und Moderatorin Anna Bella Eschengerd. „Heimwärts –Linienflüge“, an diesem Sonntag im vom Engeraner Heimatverein genutzten Gerbereimuseum eröffnet, ist nach einem Gruppenbeitrag im Gütersloher Kunstverein ihre erste Einzelausstellung. Über ihre Entwicklung gab die Künstlerin im Vorfeld Auskunft. Sie, deren Aktionsraum seit Längerem Bielefeld ist, zeigt sich sehr gespannt auf das Engagement, jedoch mit skeptischer Unterströmung. Schließlich sei nicht klar, wie man im ländlichen Raum auf die aus den Ballungsräumen ausstrahlende inflationäre Eventkultur reagieren wird.

Eschengerd gibt nicht nur in ihren Zeichnungen viel von sich selbst preis, auch in ihrer Funktion als Sprecherin improvisierter Poesie wird sie in Enger auftreten, im Trio TATUNTAT. Hier trifft sie im Rahmen ortsspezifischer Bespielungen als jeweils geschlossene Projekte seit nunmehr einem Jahrzehnt auf den Cellisten Willem Schulz und den Elektronik-Klangkünstler Marcus Beuter. Zuvor erprobte sie die Improvisation mit Texten im „Projekt Fein“.

TATUNTAT mit Marcus Beuter, Anna Bella Eschengerd und Willem Schulz. Man kann sich nur einer Sache sicher sein: blaue Haare wird es diesmal nicht zu sehen geben. Foto: Karin Prignitz

Nun sind alle Drei hauptberufliche Künstler. Mit dem Auslaufen ihres Vertrags an der Bielefelder Fachhochschule entschloss die Dozentin sich im Pandemie- Frühjahr 2020, neben der Betreuung ihrer beiden Kinder ihre bildnerische Arbeit zu forcieren. Auch diese Äußerungen sind aus der Improvisation geboren. 2013 hatte die Absolventin des Nebenfachs Kunst und Musik an der Bielefelder Uni als Leiterin einer Schreibwerkstatt im Künstlerhaus Lydda Zeit zu überbrücken und wechselte kurzerhand die Seiten. Ihre Zeichnungen entstanden auf Ausschusspapier der Künstlerwerkstatt, integrieren Flecke und Beschädigungen des Untergrunds in den frei assoziierten Fluss des Zeichenstifts.

Die Künstlerin, das Papier, die zum Bild verdichteten Linien. Foto:Rainer Schmidt
Im Fluss zwischen Hintersinn und Morbidität

Eine Beschränkung erlegt sich die Zeichnerin dabei auf: alles ist Linie, geschmiert wird nicht! Figürliches und Abstraktes gehen ineinander über, der recycelte Untergrund macht sich in neueren Tableaus als Verpackungspappe bemerkbar. Die Nase eines Gesichts mutiert bei näherem Blick in das Bein einer kleineren Figur. Einen schier unendlichen Interpretationsspielraum bieten die Bilder, ohne beliebig zu wirken. Und auch wenn man die Verfasserin hintersinniger Alltagsbetrachtungen, veröffentlicht unter anderem auf Facebook, bereits näher zu kennen glaubt, ist noch längst nicht vorhersehbar, was ihr am Mikrophon zum Thema „Heimat“ einfallen wird.

Die lokale Konzeption lag in Enger übrigens in Händen von Michael Hellwig, in dessen Rumpelstilzchen-Literaturprojekt Anna Bella Eschengerd einst als Schülerin des Widukind-Gymnasiums ihr Handwerk als Literatin aufnahm.

Auszug aus dem Programm:

Sonntag, 20.06.2021, Galerie im Gerbereimuseum

11.30 Uhr: „Heimwärts – Linienflüge“ – Ausstellungseröffnung Anna Bella Eschengerd in der Galerie im Gerbereimuseum, Hasenpatt 4 , Enger

Montag, 21.06.2021, Stadtraum, Start: ehemalige Musikschule, Renteistraße, Enger

15.30 Uhr: TATUNTAT: HEIMART I (Performance Anna Bella Eschengerd, Willem Schulz und Marcus Beuter)

„Klingender Stadtspaziergang“ nennt das Trio TATUNTAT seinen Gang durch Enger, auf dem es den Blick lenken möchte auf Orte, die ihm aufgefallen sind oder an die es Kindheitserinnerungen gibt…

Montag, 21.06.2021, Mathildenplatz

19 Uhr: TATUNTAT: HEIMART II (Performance Anna Bella Eschengerd, Willem Schulz und Marcus Beuter)

Donnerstag, 17.06. – Freitag, 25.06., Haus der Kulturen, Brandstr. 11, Enger

Fotoausstellung „Angekommen!“

Die Ausstellung zeigt Wege zur Integration in Enger und Willkommen in Enger anhand von Fotos und Informationsmaterial zu einzelnen geflüchteten Familien. Dokumentiert werden ihre Ankunft in Enger und ihr Weg, hier eine neue Heimat und Freunde zu finden können.

Bilderausstellung: Heimat

Im Rahmen eines Migrations- und Integrationsprojekts für Kinder im Haus der Kulturen haben in den Herbstferien 2020 zwei Wochen lang Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund unter Anleitung der Engeraner Künstlerin Martina Brüne ihre Vorstellung von Heimat von der Skizze bis zum großformatigen Acrylwerk auf Leinwand malen und gestalten können.

Rainer Schmidt

Autor*in: Rainer Schmidt

"Wenn man sich schon Illusionen macht, dann aber auch richtig. Es muss stimmen, wenns auch nur von kurzer Dauer ist." – Django