Beim Barte des Leinewebers

Neugierig, mit Sinn für unterhaltsame Anekdoten und umfassend interessiert an allem, was seine Stadt in kunsthistorischer Hinsicht bemerkenswert macht: der freie Journalist Ulrich Schmidt bei der Eröffnung der von ihm konzipierten Sonderausstellung "150 Jahre Hans Perathoner" im Historischen Museum Bielefeld (Fotos: Antje Doßmann)

Mit den Wahrzeichen einer Stadt ist das so eine Sache. Nicht selten sind die Geschichten, die sich hinter gezielt geplanten Denkmälern verbergen, und ihre Aussagen über den Zeitgeist spannender als die Baukunstwerke selbst. Das ist im Falle des 1909 aus Anlass der dreihundertjährigen Zugehörigkeit der Grafschaft Ravensberg zu Brandenburg bzw. Preußen in Auftrag gegebenen Bielefelder Leineweber-Denkmals nicht anders, wovon eine dem Erbauer gewidmete Ausstellung im Historischen Museum erzählt.

Selbst eingefleischte Bielefeld-Fans, die es ja gar nicht in so geringer Zahl gibt, werden den von Hans Perathoner entworfenen und hinter der Altstädter Nicolaikirche ein wenig versteckt liegenden Brunnen nicht als Geniestreich bezeichnen. Ein solcher war dann vor Jahren schon eher die Idee eines Bielefelder Marketingunternehmens, zu Werbezwecken mannshohe Kunststoffnachbildungen der Figur an die Kaufmannschaft und interessierte Vereine zu veräußern.

Insgesamt 167 Exemplare fanden Abnahme und lieferten einen Beweis für das Traditions-, aber auch Selbstbewusstsein des Stadtgewerbes, das sich mit Perathoners alles andere als schüchtern daherkommendem Leineweber offenbar gut identifizieren konnte.

Vielleicht stößt die Bronze bis heute auf Gegenliebe, weil etwas Eigensinniges von ihr ausgeht, Kantiges, fest mit der Erde Verbundenes. Sie ist gediegen, und das ist bekanntlich eine hierzulande ungemein geschätzte Qualität. Dass ein Außenstehender, wie der aus Südtirol stammende Hans Perathoner das erfasst und zum künstlerischen Ausdruck gebracht hat, obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch nicht lang in der Stadt lebte, zeugt von Instinkt. Entsprechend gut kam sein Brunnen-Denkmal damals an, und wenn es Kritik gab, so wirkte sie buchstäblich an den Haaren herbeigezogen.

“So sehr ich mich bemüht habe, in den Trachten – und illustrierten historischen Büchern einen westfälischen Bauern mit Vollbart abgebildet zu sehen: ich habe keinen gefunden.”, kommentierte 1909 ein Historiker beispielsweise spitz. Eine Einzelmeinung, die aber interessant ist, weil sie die Stimmung vorausnahm, die bald danach gegen den ‘fremden’ Künstler in der Stadt gemacht wurde, als dessen Kunst im öffentlichen Raum freier wurde: 1908 die Reliefs am Bezirkskommando (“Diese verhungerten, an der Luft ausgetrockneten, zerknitterten und zerknüllten Soldaten, ein Hohn für unser Militär”), 1913 das Portal-Relief für die Senne-Kapelle mit dem nackten Tod in der Mitte (“eine Verletzung des natürlichen und christlichen Empfindens”).

Als Hans Perathoner im Jahr darauf nach Berlin zog, dürfte ihm der Abschied nicht allzu schwer gefallen sein. Insgesamt sieben Jahre lang hatte er in der Stadt verbracht, die nicht zuletzt dank ihm zur “Leineweberstadt” wurde. Es war Wilhelm Thiele, der Direktor der damals neu gegründeten Bielefelder Handwerkerschule, der das Talent des aufstrebenden Bildhauers erkannt – und ihn aus dem Ladinischen ins Ostwestfälische geholt hatte. Wie richtig Thiele mit seiner Einschätzung lag, bestätigt Perathoners 1930 entstandener, aus einem sechs Meter langen Eichenstamm geschlagener Christus, der noch heute in einer Kirche in Marzahn zu bewundern ist. Die expressionistische Figur ist beeindruckend.

Man kann sich im Historischen Museum einen vertiefenden Eindruck über den Schöpfer dieser faszinierenden Berliner Christus-Skulptur, aber eben auch des Bielefelder Leinewebers verschaffen. Die Retrospektive “150 Jahre Hans Perathoner” ist der Initiative Ulrich Schmidts zu verdanken, der u.a. regelmäßiger Gastautor bei den Resonanzen ist. Allen, die den offenen Heimatkunde-Begriff des freien Journalisten teilen und wie er wissen wollen, was es mit den Dingen der Stadt vor und hinter den Kulissen auf sich hat, sei ein Besuch der Ausstellung empfohlen. Man sieht den Leineweberbrunnen danach mit anderen Augen.

Die auf Vermittlung Gerhard Bendas (Historisches Museum) konzipierte Ausstellung ist noch bis zum

25. September 2022 zu sehen im:

Historischen Museum Bielefeld, Ravensberger Park 2.

Eintritt: 6 Euro inkl. Dauerausstellung

Öffnungszeiten:

Di-Fr. 10.00 bis 17.00, Sa-So. 11.00 bis 18.00

Demnächst erscheint im Bielefelder KunstSinn-Verlag ein Buch zur Ausstellung.

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.