Drei Zyklen, die unter die Haut gehen

Während der seit 2008 bestehende Hochroth Verlag zumindest in lyrikinteressierten Kreisen längst ein Begriff ist, hat es die Zweigstelle in Bielefeld in mehrfacher Hinsicht schwer, die verdiente Aufmerksamkeit zu erhalten. Anders als Berlin oder Leipzig ist Bielefeld wenig für seine literarische Szene bekannt. Darüber hinaus hat sich der Ableger in Bielefeld auf eine Nische in der Lyrikwelt spezialisiert. Hier werden seit 2016 vor allem Übersetzungen samischer und finnischer Dichterinnen und Dichter verlegt. Allerdings ist das Programm offen für neue Entdeckungen, wie der im letzten Jahr verlegte Band mit Texten und Illustrationen von Anna Hubner, Anne Pretzsch und Karin Kraemer demonstriert. Die drei Frauen beschäftigen sich in „In Atem“ damit, wie unterschiedliche Organe mit dem Körper, dem biologischen Körper und dem Sprachkörper interagieren. Was hier recht akademisch klingt, verwandeln Hubner und Pretzsch in drei Zyklen in einen Raum, der den Leserinnen und Lesern neue Wahrnehmungen ermöglicht.

Schutzschichten werden abgetragen, die Verletzlichkeit erhöht, um so angesichts der Verwundbarkeit eine neue Stärke zu entwickeln. Eindrucksvoll erfährt die Leserin, wie dünn die eigene Haut ist, und wie robust. Und was Sprache und Haut miteinander zu tun haben, wie die Sprache unter die Haut gehen kann, und Berührung Sprache unmöglich oder überflüssig werden lässt.

Der schmale Band beginnt an der Oberfläche. Mit der Haut. Die den Körper schützt und gleichwohl Schutz braucht. Einen Schutzfilm, der bei der Geburt in Form von „Schmiere“ da ist, und der die Haut schützt, die wiederum den Organismus schützt. Die Texte drängen (hervorragend unterstützt durch die Illustrationen von Karin Kraemer) immer weiter unter die Oberfläche vor, andere Sinnesorgane treten auf – zunächst, um das Gefühl der Scham zu beschreiben.

Graphisch wird dieser Vorgang, dieses Eindringen, illustriert durch Bilder von Zellen, die zunächst fest, jede in sich abgeschlossen, aneinander hängen, während die folgende Zeichnung brüchige deformierte Zellwände zeigt, die durchlässig sind, ungeschützt. Von diesem Gefühl bewegen sich die Texte erneut zum Ausdruck, fragil, durchlässig, aber auch auf verletzende Art beständig. Und schließlich geht all das auf im Gesamtbild, das den Menschen in Beziehung zur Welt setzt. Hier ist er das, was der Welt aus den Poren quillt und ihr Gesicht entstellt. Und gleichzeitig ein maßlos leidender Mensch, der versucht, sich zu beruhigen, indem er atmet. Immer wieder. Ein und aus.

Atme. Atme ein. Und atme aus. Ein. Und. Aus.

Im zweiten Zyklus geht es eine Hautschicht weiter in die Tiefe.

Ich kann dieses Gesamtkunstwerk, das Ineinandergreifen der einzelnen Teile nicht beschreiben, es ist vielmehr eine Berührung, ein Gefühl, als etwas, das klar definierbar und in Worten ausgedrückt werden kann.

Allein die Zeichnung, die den zweiten Zyklus einleitet: Härchen, die die Haut durchstoßen, werden zu Monolithen, es entsteht ein gleichzeitig schöner und bedrohlicher Wald, und das pelzige Wesen mit den großen (unschuldigen?) Augen umarmt eines dieser Gewächse. Allein das ist bereits eine Geschichte.

Nach Verletzung und Scham spricht der letzte Zyklus schließlich von der Wundheilung.

Den Auftakt macht ein Text, der erklärt wie Wundheilung biologisch vonstatten geht. Die folgenden Texte helfen zu erkennen, wie sehr sich auch unsere Handlungen, unsere Reaktionen nach einer psychischen Verletzung an diesem biologischen Modell orientieren.

Insgesamt folgen die Zyklen in „In Atem“ einer klugen und hervorragend konzipierten Dramaturgie, die Körper und Sprache immer wieder ebenso subtil wie untrennbar miteinander verknüpft. Gleichermaßen wissenschaftlich und intim wird das ABC (Annäherung, Begegnung, Cutis) der Körper durchgespielt. Getragen von einer radikalen Zärtlichkeit.

In Atem : Anna Hubner | Karin Kraemer | Anne Pretzsch

Autor*in: Elke Engelhardt

Schreibt mit nicht nachlassender Begeisterung über Bücher. Ganz selten schreibt sie selbst eins.