Irresein ist menschlich

Die Guten von Paris: Nina, Kellnerin im Café Francis (Rebecca Lorenz), Gräfin Aurelia, die "Irre von Chaillot" (Frederike Haas), die Stumme (Jennifer Pöll), der Kellner (Alexander von Hugo), der Wachtmeister (Jens Janke), Julien (Michael B. Sattler) und nicht zu vergessen: der Abwasserkanal-Mann (Dirk Weiler) Foto: Sarah Jonek

Man mag zu Musicals stehen, wie man will – wenn eine Inszenierung mit so scharf-melancholischer Sozialkritik, liebenswertem Charme und grimmigem Humor daherkommt wie Thomas Winters Bearbeitung von “Dear World”, dann bereitet dieses Operngenre ohne Zweifel anspruchsvolles Theatervergnügen.

Vor allem die an Helena Bonham Carter erinnernde Hauptdarstellerin Frederike Haas in der Rolle der Gräfin Aurelia erweist sich als Idealbesetzung. Sie spielt nicht, sie IST auf der Bühne dieses warmherzige und pfiffige Frauenpfundsstück, jene “Irre von Chaillot”, der schon bei Jean Giraudoux in dessen satirischem Theaterstück von 1943 die Weltrettung gelingt. Hurra! Irre dieser Art können wir gar nicht genug gebrauchen, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen.

Deutschsprachige Erstaufführung

Es gibt zwei Musical-Fassungen des Theaterstoffes, eine von 1969, die andere aus dem Jahr 2006. In deutscher Sprache wurde “Dear World” am Stadttheater Bielefeld am Samstagabend zum ersten Mal aufgeführt. Auch das war Frederike Haas zu verdanken, die zusammen mit Melanie Haupt die Übersetzung erarbeitet und zuvor die entsprechenden Rechte eingeholt hatte. So konnte die Botschaft des turbokapitalismuskritischen Zweiakters noch deutlicher an das am Ende restlos begeisterte Premierenpublikum gebracht werden: Nieder mit den Heuschrecken, die unseren Planeten zugrunde richten! Ab mit ihnen ins Abwasser! Auf Nimmerwiedersehen!

Ähnlich, wie wir uns als Kinder gefreut haben, wenn den Bösen im Märchen Unschönes widerfuhr (Tod durch Ertrinken im Brunnen, Verbrennen im Ofen und dergleichen mehr), können wir uns bei einem Musical wie diesem selbst dabei beobachten, wie etwas in uns sehr einverstanden ist mit dem kurzen Prozess, den die Gräfin Aurelia und ihre leicht meschugge Clique (mit) den drei Großkapitalgesellschaftern und dem Erdöl unter Paris witternden Prospektor machen.

Vor Präsidenten wird gewarnt

Tatsache ist, dass skrupellose Profiteure nicht weniger geworden sind, seit Giraudoux sich über das Treiben der Spekulanten und Geschäftemacher während der deutschen Besatzungszeit in Paris entsetzt hat. Elon Musk zum Beispiel könnte heute mühelos Pate stehen für einen der kichernden, sich ständig die Hände und den Bauch reibenden “Präsidenten”, wie sie in “Dear World” über die Bühne mal schleichen, mal stapfen. Cornelie Isenbürger, Jens Janke und Alexander von Hugo spielen sie im Übrigen pointiert und mit bitter-komischer Übertreibung. Doch was heißt schon Übertreibung, wenn der reale Elon Musk jüngst mit einem Lachen auf die Frage reagierte, warum der örtliche Brandenburger Wasserversorger sage, für weitere Ausbaustufen der geplanten Tesla Gigafactory in Grünheide nicht das nötige Wasser zu haben und dazu anmerkte: “Das ist komplett falsch! Sieht das hier aus wie eine Wüste?”

Es taucht aber darüber hinaus eine bohrende Frage auf in Thomas Winters von William Ward Murta musikalisch schwungvoll geleiteten Inszenierung, die etwas weniger bequem zu beantworten ist. Denn sie betrifft alle, die da mit solch offensichtlichem Spaß an den wirklich originellen, heiteren Einfällen und so skurrilen Figuren wie dem Abwasserkanal-Mann (Dirk Weiler) oder Mademoiselle Gabrielle (Carlos Horacio Rivas) mit ihrem eingebildeten Hund Dickie und der schrägen Madame Constance (Cornelie Isenbürger) im Publikum saßen und gewissermaßen “die Deutschen” repräsentierten: Wann eigentlich sind wir (außerhalb des Theaters) solche Sauertöpfe geworden? Die lange vor den großen Katastrophen, die uns in letzter Zeit in enger Taktung einholen, angefangen haben, im Alltag mürrisch zu werden, unzufrieden, skeptisch, missgünstig, pessimistisch.

Am heutigen Tag der Einheit und mit der Irren von Chaillot im Rücken sei zum Schluss erinnert an die helle Freude unter Menschen, die es gab, als die Mauer fiel. Sicher, danach kamen Kohls “blühende Landschaften” und die entsprechenden “grauen Herren”, wie sie bei Michael Ende hießen. Aber alles ist denen dann doch nicht in die Schuhe zu schieben. Geister erscheinen, wenn wir sie rufen. Die bösen, wie auch die guten. “Dear World” erinnert daran. Mit Belting und Stepptanz und allem Musical-Drum und Dran. Und das hat Klasse.

Nächste Termine: 03.10., 19.10., 30.10., 13.11., 19.11., 26.11., 29.11., 07.12., 31.12.2022.

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.