Ach Gott, ach Mensch

"Keine Angst, es ist nur die Realität!", wie Bubblegum Noir schon sagte. Nur dass das den düpierten Amphitryon (Cornelius Gebert, vorn) im Augenblick wenig tröstet. Im Hintergrund von links nach rechts: Brit Dehler, Lukas Graser, Alexander Stürmer und Janis Kuhnt. (Foto: Philipp Ottendörfer)

Heinrich von Kleist. “Amphitryon”. Das Bielefelder Theater hat, so scheint es, gegenwärtig eine Vorliebe für antike Heldinnen. Penelope auf der Bühne des großen Hauses, Alkmene am Alten Markt. Wieder wartet dort eine hochgestellte Frau auf die Rückkehr ihres ruhmreichen Mannes und sieht sich gezwungen, über ihre Beziehung zu ihm nachzudenken. Und wieder wird von ihrer inneren Einstellung mehr abhängen als nur der Ausgang ihrer individuellen Paargeschichte.

Denn emotionale Entschiedenheit – was hier heißt: weibliche Klarheit der Gefühle, die Fähigkeit bedingungslos zu lieben – wird auch in Kleists tragikomischem Lustspiel am Ende eine Richtschnur sein für den Menschen an sich und seine Suche nach sinnerfülltem Sein in einer entgötterten Realität. Keine leicht auf die Schulter zu nehmende Aufgabe. Kleist selbst, wir wissen es, ist tragisch an ihr gescheitert. Dabei hatte er für andere, sogar noch für uns Heutige, gute Rezepte gegen Schwermut. Das Lachen zum Beispiel, das mindestens ebenso wirksam ist wie die Lust zu lieben.

Sein “Amphitryon” regt dazu an, kitzelt diese Lust zu lachen, bei aller gelegentlich melancholischen Tiefe der Reflexton. In Cilli Drexels Inszenierung, die am Donnerstag im Theater am Alten Markt Premiere feierte, kam der Spaß an der selbstironischen Götter- und Menschendämmerung jedenfalls nicht kurz. Dafür sorgten eine Reihe situationskomischer Einlagen wie wilde Verfolgungsjagden durchs Haus und aberwitzige Spiegelgefechte auf der von Christina Mrosek eingerichteten Bühne, originelle musikalische Intermezzi, die Lukas Graser für das Ensemble arrangiert hatte, die subtilen Kostüme von Janine Werthmann und nicht zuletzt das pointierte Spiel der sechs Leute auf der Bühne, vier von ihnen irdischer, zwei göttlicher Natur.

Prügelt dem bedauernswerten Sosias (Alexander Stürmer) das Ich aus dem Leib: Lukas Graser als zumindest verhaltensauffälliger Göttersohn Merkur (Foto: Philipp Ottendörfer)

Thematisch geht es in “Amphitryon” um Identitätsraub, oder Identitätsklau, wie es heute heißen würde, und dass uns der Begriff zuschauend überhaupt in den Sinn kommt, weil wir an die realen Abgründe virtuellen Datendiebstahls denken, zeigt, wie zeitlos der psychologisch dichte Stoff geblieben ist. Ursächlich für die Verwirrung in Kleists Lustspiel ist Zeus/Jupiter, der wie immer Chaos stiftet, wenn ihn die göttliche Langeweile und zugleich eine unbestimmte Sehnsucht nach dem Wesen des Menschen packt, vornehmlich in Gestalt einer reizvollen Wartenden.

Und da er sich nicht offen zeigen kann, weil die Sterblichen bei seinem Anblick geblendet sind, in konvulsivische Zustände fallen, ohnmächtig werden oder schlimmstenfalls direkt sterben, muss sich der liebgierige Göttervater eben etwas einfallen lassen, um ans Ziel seiner sexuellen Wünsche zu kommen. Was sonst soll er tun? Fast möchte man schreiben, er ist eben auch nur ein Mensch. Ist er aber eben gerade nicht. Das nervt ihn ja selbst manchmal, und wie Janis Kuhnt den an Alkmenes entwaffnender Liebe zum realen Amphitryon schier Verzweifelnden mimt, mit dem er halt nur äußerlich identisch ist, hat wirklich eine große Komik. “Alkmene!”, appelliert er kindstrotzig, “auch der Olymp ist öde ohne Liebe.”

Wie soll frau das verstehen? Brit Dehler, sichtlich entflammt, euphorisiert, erotisiert, jede Erinnerung an die Liebeskunst des wahrhaftigen Göttergatten mit einem lustvollen Unterleibzucken kommentierend, nimmt man die zunächst berauschte, doch bald gänzlich verwirrte Frau, die dem höchsten Gott aber instinktiv Mores lehrt, mit Vergnügen ab. Und Alexander Stürmer als echter, im Herzen ein wenig zager, aber grundanständiger Diener Sosias und Lukas Graser als grässlich hochmütiger, göttlich degenerierter falscher Sosias (denn in Wahrheit ist er der Zeussohn Merkur) machen aus ihrem sporadischen Doppel-Ich ein derartig absurdes Identitätsringen, dass ihrem Bühnentreiben wohl die meisten Publikumslacher gelten.

Falscher Diener über echter Alkmene, echte Magd über falschem Amphitryon: Während unten unwiderstehliche Anziehungskräfte zwischen Alkmene (Brit Dehler) und den als Amphitryon getarnten Zeus/Jupiter (Janis Kuhnt) walten, schauen Lukas Graser und Doreen Nixdorf mit gemischten Gefühlen von oben herab. (Foto: Philipp Ottendörfer)

Und dann ist da noch Doreen Nixdorf in der Rolle der Magd Charis. Wie sie schimpft und schmollt, kokettiert und kalkuliert und doch immer die Stimme der menschlichen Vernunft bleibt, ist einfach umwerfend. Riesenapplaus am Ende für einen anspruchsvoll unterhaltsamen Theaterabend in wunderbar poetischer Sprache: “Mein süßes, angebetetes Geschöpf! / In dem so selig ich mich, selig preis! / So urgemäß, dem göttlichen Gedanken, / in Form und Maß, und Sait und Klang, / Wie’s meiner Hand Äonen nicht entschlüpfte!” Das sagt im Stück natürlich der Gott-Gemahl, nicht der Mensch-Gemahl, von Cornelius Gebert gekonnt als moderner Grübler angelegt. Dem echten Amphitryon fällt am glücklichen Ende nur ein, “Ach” zu sagen. Dieser kleine Seufzlaut, von dem sich schwer sagen lässt, ob er nun Sehnsucht oder Schwermut, Erkenntnis oder Erleichterung ausdrücken soll. Es ist Cilli Drexel, die ihm das Wort in den Mund legt. Bei Kleist spricht Alkmene dieses “Ach”. Denn geändert haben sich die Zeiten seit 1807 schon. Ein bisschen.

Die nächsten Vorstellungen: 06.10., 19.10.2021

Antje Doßmann

Autor*in: Antje Doßmann

Die Antje...kann über gelungene Kunst-Taten ins Schwärmen geraten, und dann rette sich von ihr aus wer will. Den anderen wünscht sie beim Lesen ein heißes Herz und einen kühlen Kopf.