Ein unangepasstes Kleinstadtmädchen entdeckt ihre Stimme und die Welt des Showgeschäfts. Die Geschichte geht nach Problemen mit unwirklich großem Erfolg und erfolgloser Suche nach der wirklichen Anerkennung mit dem frühen Tod der Protagonistin tragisch aus. Überlebende Sängerinnen ihrer Generation, etwa Joni Mitchell oder Marianne Faithfull sind Thema fürs Feuilleton, an der Legende Janis Joplin haftet noch ein Stück Boulevard. Wer würde es also dem Theater Bielefeld verübeln, die Lebensgeschichte des ungewöhnlichen Gesangsstars der Hippie-Ära in eine bunt-unterhaltsame Revue mit viel Musik zu verpacken?

„Cry Baby“, inszeniert von Michael Heicks, besetzt aus dem Theaterensemble und musikalisch geleitet durch den aus Bielefeld stammenden Theatermusiker Laurenz Wannenmacher, spart andere Qualitäten der Entertainerin allerdings nicht aus: ihre besitzergreifende Art, wenn es darum ging, Zugang zu finden zu dem, was in der Mehrheitsgesellschaft einer Frau nicht zugedacht war. Oder das Einreißen von Gräben in der Wahrnehmung „schwarzer“ und „weißer“ Musik.
Ein weißes Rhinozeros im Raum
Unter Perücken und mit Federboas geschmückt (Kostüme: Anna Sörensen) erlebt man auf der Bühne des TAM eine versechsfachte Rockikone. Lukas Graser, Christina Huckle, Stefan Imholz, Carmen Priego und Thomas Wehling leihen den aus Briefen und Interviews überlieferten Zitaten ihre Stimme, fallen einander ins Wort bei den ausschmückenden Spielszenen, lassen das Mikrophon für die Gesangsparts kreisen wie einen Joint. Es ist alles zuviel und doch gerade richtig für die Darstellung einer rauschhaften Zeit des Aufbruchs. Tanzensemblemitglied Noriko Nishidate stimmt mit ins Japanische übersetzten Zeilen ein, eine Schuß exotischer Sexyness fügt die Tänzerin dem Geschehen hinzu.

Die Band ist den verschiedenen Stilistiken gewachsen, welche Janis Joplin in ihrem Wirken erprobte, dem abgehangenen Folk der Songwriterin, rauchigen Blues der „Big Brother and the Holding Company“, poppigen Soul der späteren Jahre, Laurenz Wannenmacher verleiht der Musik in seinen Arrangements und knarzigem Orgelsound eine angenehm aufgefrischte Note. Reinhold Westerheide ist abwechselnd an Gitarre und Schlagzeug vernehmbar. Patrick Reerink („Guts Pie Earshot“) läßt am elektrischen vergessen, dass ein Cello in der Rockmusik eigentlich nichts zu suchen hat.
a cappella, Soul und Beat Poetry
Ein raffinierter Kniff ist es, wenn Autor Christof Wahlefeld das Ensemble in einer Spielszene Fragen durch den Saal werfen lässt und das Publikum erst danach erkennt, dass es gerade in Manier eines Radiomoderators den Text von „Mercedes Benz“ nacherzählt bekommen hat. Darauf rockt die Band los, Noriko Nishidate verausgabt sich in einem Tanzsolo, und dazu wird die Projektionsfläche ausgereizt: Filmemacher Sascha Vredenburg bildet die Köpfe der Schauspieler formatfüllend ab, wie sie „Howl“ von Allen Ginsberg rezitieren. Schließlich ist das hier immer noch Kunst. Aber es wirkt, hey, es wirkt!