Ach, das Theater

Am Weltfrauentag 2023 lud das Theater Bielefeld zur Spielplanpressekonferenz ins TAM. Der Termin war mit Bedacht gewählt, denn aus der bisherigen männlichen Solointendanz von Michael Heicks wird mit Beginn der nächsten Spielzeit eine Doppelspitze mit einer Frau und einem Mann. Was im politischen Parteiengefüge gang und gäbe ist, hat nun also auch Einzug ins Bielefelder Theater gefunden.

Nadja Loschky, noch Operndirektorin, tritt mit Beginn der nächsten Spielzeit in die Intendanz ein, der Michael Heicks noch zwei Jahre erhalten bleibt. Also nun zwei Jahre zwei Intendantengehälter. Man wird von equal pay ausgehen dürfen? Was den Blick auf die Kostenfrage bzw. Haushaltslage des Theaters lenkt. Dazu später mehr. Den Gleichschritt in der Intendanz begann das Duo mit gleichzeitig gesprochener Begrüßung der Presse. Aber nur mit der Begrüßung. Dann gab es erste einmal eine umfangreiche Begründung des nächsten Theatermottos „Ach“.

Quer durch die Bühnenliteratur, so das Intendantenduo, finde sich dieses Dreibuchstabenwort in vielfach verschiedener Verwendung: Ausdruck für etwas, das sich kaum ausdrücken lässt – in Sprache gefasste Sprachlosigkeit. Und so stellen sie sich als Theater und dem Publikum als Adressaten in der kommenden Spielzeit diese Fragen: „Wie wollen wir der Welt begegnen? Mit Klagen: ach je!, mit Lakonie: ach was!, mit Stauen:  ach wie schön!“

Modellversuch Doppelspitze

Um diese Doppelspitze hat es seinerzeit, als sie verkündet wurde, Erstaunen und Geraune gegeben. Natürlich wurde über Geld geredet, das das Theater eigentlich nicht hat. Dann: typisch Mann – kann nicht loslassen… wie steht die Frau jetzt da? Quasi eine Azubi im Intendantenstatus… ??? Ein Blick zurück: als Regula Gerber 1998 als Nachfolgerin von Heiner Bruns antrat, gab es keine Doppelspitze. Regula Gerber musste sehen, wie sie zurecht kam. Und der Übergang von Gerber zu Michael Heicks fand auch ohne Doppelspitze statt. Heicks hatte allerdings den Vorteil, das Haus, an dem er seit 23 Jahren arbeitete ( = Bruns‘ Amtszeit!), schon als Schauspieldirektor zu kennen. Das lässt sich analog zu Nadja Loschky auch feststellen: Sie ist seit der Spielzeit 2019/20 Operndirektorin.

Wozu also die Doppelspitze? Die Doppelspitzeninhaber begründeten es mit der Möglichkeit, Veränderung als Prozess zu gestalten, das eröffne mehr Spielräume. Was man halt so sagt. Finanziell ist die Verwaltungsleiterin Stefanie Niedermeier bislang zufrieden. Dank der Rücklagen aus der Corona-Zeit ist noch Geld vorhanden. Und der Besucherschwund, über den landauf landab die Theater klagen, hat es hier nicht gegeben. Auf hohem Niveau sind ca. 300 Abonnenten weniger zu verzeichnen. Ein Problem könnte sich ergeben, wenn die Ver.Di –Forderung nach 10,5 % mehr Lohn/Gehalt durchginge. Das würde einen beträchtlichen sechsstelligen Betrag im Etat ausmachen. Bislang hatte freilich die Stadt noch immer den Betrag übernommen im Gegensatz zu anderen Städten, die dann etwa die Hälfte dem Theateretat auferlegen. Das klingt also sehr kulturfreundlich seitens der Stadt. Aber mit schreckgeweiteten Augen hat man natürlich auch den Umgang der Stadt mit dem Stenner-Forum gesehen. Michael Heicks sprach gar von „Fremdschämen“.

Tanz-Hotspot Bielefeld

Als Erster durfte Felix Landerer sein Programm vorstellen. Felix Landerer ist der neue Chef der Ballett Compagnie, arbeitet zurzeit am Nederland Dans Theater (Raw are the roots, Premiere 11.5.2023) und hatte gerade eine Probenpause. Das zeigt, Bielefeld ist mittlerweile als Tanz-Hotspot bekannt. Es gelingt dem Theater, international bekannte Choreographen zu engagieren. Da ist eine Saat aufgegangen, die Regula Gerber gelegt hat.

“Der Concierge” – Aufführung in Münster 2014, Foto: LANDERER&COMPANY

Zur Einstimmung und Einfühlung auf das Bielefelder Publikum, das er nicht kennt, das ihn nicht kennt, wird Landerer eine Uraufführung erarbeiten mit dem Titel „Hotel Many Welcome“. Klingt schon ein bisschen fremd, um nicht zu sagen absurd. Im Begleittext heißt es, dass „ein*e Mitarbeiter*in“ die Gäste des Hotels empfängt nach eigenem Gutdünken einteilt: wer passt, wer nicht. Die Ankommenden werden nach absurden Regeln eingeteilt (Premiere 21.10.23). Es ist die Neuinterpretation eines 2014 in Münster von ihm kreierten Stückes „Der Concierge“ an der Schwelle zwischen Realität und Fiktion. Mit seiner zweiten Arbeit, wieder eine Uraufführung, bringt Felix Landerer sein eigenes Ensemble mit dem Bielefelder Corps de Ballett zusammen. Spannend!

Die Sprache(n) der Oper

Die Abteilung Gesang beginnt wie üblich mit einem Musical. „Der Mann, der Sherlock Holmes war“ basiert auf einem UFA-Film von 1937 mit Heinz Rühmann und Hans Albers in den Hauptrollen – ein Verwechslungsspiel auf vielen Ebenen, das 2009 von Marc Schubring (Musik) und Wolfgang Adenberg (Buch und Liedtexte) in Dresden uraufgeführt wurde (Premiere 3.9.23). Die klassische Oper beginnt am 30.9. mit Carmen (französisch gesungen) von George Bizet. Eine starke Frau unterliegt den Machos, allen Freiheitsbestrebungen zum Trotz.

Um Freiheit geht es auch in der nächsten Oper, diesmal italienisch: Il Barbiere die Siviglia von Rossini. Hier will Rosina nicht wie ihr Ziehvater. Ab 26.11.23 im Stadttheater. Einen Tag vor Heiligabend kommt die Familienoper „Doktor Bartolos Geheimnis oder In Sevilla sind die Mäuse los“ auf die Bühne des Großen Hauses. Der Titel verrät es: Zwar spielt die Rossini-Oper eine gewisse Rolle, aber es geht der Regisseurin Nadja Loschky gemeinsam mit dem Komponisten Michael Wilhelmi um einen turbulenten Familienopernspaß für Kinder und Erwachsene von 6 – 99 Jahren. Dr. Bartolo hat Probleme mit seinen Labormäusen und vor allem mit seinen unzulänglichen Forschungsmethoden. Wer also seine Kinder von den Weihnachtsvorbereitungen ablenken will… Die Bielefelder Oper will mit dieser Produktion nicht nur die erwachsenen Opernfreunde einladen, sondern Eltern animieren, mit ihren Kindern spielerisch die Oper zu erobern.

Mit einer weiteren starken Frau geht es weiter: Artur Honeggers/Paul Claudels Dramatisches Oratorium „Johanna auf dem Scheiterhaufen“ kommt am 12.1.24 als Lichtspieloper in der Rudolf-Oetker-Halle zur Aufführung: „Arthur Honegger schrieb 1935 ein ungewöhnliches Oratorium nach einem Libretto von Paul Claudel: Die Hauptrollen werden von Schauspieler*innen übernommen, Chor, Sänger*innen und Orchester verdichten das Geschehen atmosphärisch, das wie ein innerer Film Jeannes unmittelbar vor ihrem Flammentod abläuft und die Unterdrückung der Einzelnen durch die Menge zum Grundthema hat. Als Lichtspieloper präsentieren wir dieses beeindruckende Werk konzertant mit starker Bildkomponente“, verheißt das Werbeheft. Ausnahmsweise in Deutsch.

Nadja Loschky ist seit Beginn der Spielzeit 2019/20 am Theater Bielefeld künstlerische Leiterin der Opernsparte. Foto: Phillip Ottendörfer

Dafür wird es im nächsten Werk sprachlich für die Sängerinnen und Sänger hoch kompliziert. Leos Janaceks Oper Katja Kabanowa wird auf Tschechisch gesungen! Um der häuslichen Tyrannei ihrer Schwiegermutter und ihres Gatten zu entfliehen, geht Katja Kabanowa eine Affäre mit dem jungen Boris ein. Ein Gewitter lässt ihr schlechtes Gewissen und ihre Sündenängste kulminieren; sie gesteht ihren Seitensprung – und nimmt sich das Leben. Unter den slawischen Sprachen gilt tschechisch als die komplizierteste, denn mehr Zischlaute und diakritische Zeichen, die die Aussprache zusätzlich erschweren, gibt es wohl in keiner weiteren slawischen Sprache. Auf Nachfrage erzählt Frau Loschky, dass die Sprachcoachin jetzt schon an der Arbeit ist mit dem Ensemble.

Die spartenübergreifende Produktion „Der Sandmann“ von Calvi/Wilson/Hoffmann am 11.5.24 wird dagegen sprachlich vermutlich eher ein Spaziergang. Zum Saisonausklang geht’s heiter zu: Verdis „Falstaff“ kommt italienisch daher: „dalle due alle tre“ statt „von halbzwei bis halbdrei“ z.B. – ab 31.5.24.

Fazit: Die sprachliche Vielfalt der Operndramatik in der noch laufenden Spielzeit mit Deutsch, Englisch, Russisch, Iitalienisch wird 2023/24 fortgesetzt mit Französisch, Tschechisch, Englisch, Italienisch. Der dramatische Schwerpunkt liegt auf starken Frauen, die versuchen, sich selbst zu behaupten, was aber unter den gegebenen Umständen zum Scheitern verurteilt ist. Das Spielzeitmotto „Ach“ kriegt da jedes Mal einen ganz spezifischen Klang von Sprach- oder Fassungslosigkeit.

Fragen des Alters

Das Schauspiel beginnt am 1.9. mit einem Drama, das im Januar dieses Jahres in Wiesbaden uraufgeführt wurde im Kinder- und Jugendtheater: Die goldene Stadt. Es geht um Kara und Marek. Die zwölfjährige Kara will weg aus einem verwüsteten Land in die goldene Stadt. Der Weg dorthin wird ihr einerseits verstellt durch den „Monster-Riesenaffen Angst“ und real von Marek, der in einem kaputten Panzer wohnt und partout nicht in die goldene Stadt ziehen will. Die beiden freunden sich trotzdem an, am Ende steht die Frage: Wo gehen wir gemeinsam hin. Im Ankündigungstext steht: „Empfohlen ab 10 Jahren.“ Das Theater Wiesbaden gab die Altersempfehlung: ab 14. Das ist natürlich ein gewaltiger Unterschied.

Zum Schluss heißt es in dem Text: „Er [der Autor Markolf Naujoks] setzt seine beiden Protagonist*innen in ein Geschehen, welches gleichermaßen humorvoll, bedrückend und hoffnungsfroh ist.“ Dramaturgenlyrik. Denn welche Frage bleibt am Ende?: Wo gehen wir hin? Das heißt doch: Ende offen. Hoffnungsfroh? Das Spielzeitmotto „Ach“ erhält hier doch einen recht resignativen Charakter. Auf Nachfrage erläutert Schauspieldirektor Dariusch Yazdkhasti, dass man aufgrund der Erfahrungen z.B. mit der aktuell noch laufenden Produktion gute Erfahrungen mit einem glänzend vorbereiteten Team habe und deswegen sicher sein kann, mit der Altersempfehlung 10+ richtig zu liegen.

Schwierig geht’s weiter: Vor 100 Jahren erregte Arthur Schnitzlers Novelle „Fräulein Else“ Aufsehen, weil er die selbstherrlichen und zerstörerischen Verhaltensweisen der Wiener High Society anprangerte. Im Kern geht es darum, dass Elses Mutter von der Tochter verlangt, für den hochverschuldeten Vater bei einem guten Bekannten um die Schuldensumme zu bitten, die aber telegraphisch angewiesen werden soll. Der gute Freund, genau so verkommen wie der Vater, verspricht das Geld, verlangt aber als Gegenleistung, Else möge sich ihm nackt zeigen. Die junge Frau ist sich ihrer Reize bewusst, will aber selber bestimmen, wie sie damit umgeht. Im Zwiespalt zwischen Loyalität zum Vater und Selbststimmung greift sie zum äußersten Mittel.

Zuschauerraum (von der Bühne aus gesehen) des Theaters Bielefeld . Foto: Andreas Praefke, commons.wikimedia.org

Carina Sophie Eberle gibt in ihrer Adaption, „Else (someone), Uraufführung am 8.9.23 im TAM, den Figuren ein modernes Selbstbewusstsein und will dennoch die ungebrochene Aktualität der Coming-of-age-Geschichte zwischen aufgedrückten Geschlechterrollen und alltäglicher sexueller Belästigung  zeigen. Angesichts der nahezu täglich aufscheinenden Schreckensmeldungen über sexuelle Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Frauen darf man gespannt sein auf die Bearbeitung.

Die Zeitlosigkeit struktureller Gewalt

Um strukturelle Gewalt im gesellschaftlichen Gefüge geht es in Friedrich Schiller „Kabale und Liebe“ einen Tag später im Stadttheater (2.9.23). Luise Miller und Ferdinand von Walter kommen nicht zueinander, weil weder der Präsident des Fürstenhofes noch der Musiker Miller mit dieser Verbindung aus unterschiedlichen Gründen einverstanden sind. Eine Intrige des Sekretärs Wurm lässt alle Träume platzen. Neugierig darf man sein, wie sich Schillers hohe, klare Sprache des späten 18. Jahrhunderts mit unseren heutigen Sprachgewohnheiten verträgt.

Die nächste TAM-Premiere am 28.10.23 – „Me, Myself von I“ von Florian Zeller bietet laut Waschzettel des Desch Verlages eine „Bombenrolle“ für einen reiferen Protagonisten. Im Stück heißt er Michel, der nach vielen Jahren der Suche endlich die Platte gefunden hat, die dem Drama den Titel gibt. Nun also schnell nach Hause und die Scheibe aufgelegt. Von wegen – in bester französischer Komödientradition wird in dieser Farce der Unsinn auf die Spitze getrieben.

Über das Weihnachtsmärchen ab 4.11.23 im Stadttheater muss man nicht viele Worte verlieren. Verheißt schon der Autorenname beste Unterhaltung, wird sie nur noch durch den zungenbrecherischen Titel gesteigert: „Der satanarchäolügenialkohöllische Wunschpunsch“. Kleiner Tipp: Rechtzeitige Kartenbestellung sichert gute Plätze.

Die letzte Schauspielpremiere des Jahres gibt es am 9.11.23 im TAM: Anna Jelena Schulte kommt erneut mit einer Recherche-Arbeit nach Bielefeld: „Die Alleinunterhalterin“ – schon das ist ein Euphemismus. Einerseits. Denn es geht um die traurige, beschämende Geschichte der Alleinerziehenden. Aber die Autorin macht aus ihren Gesprächen mit Bielefelderinnen eben kein Trauerspiel, was ja angesichts der Problematik denkbar wäre. Sie schreibt eine Komödie über eine alleinerziehende Mutter mit ihren Kindern. Von den feudal-bürgerlichen Verhältnissen der Schiller-Zeit ein Sprung in unsere spätbürgerliche (?), verlogen Chancengleichheit behautptende, soziale Marktwirtschaft propagierende Gesellschaft – ob da die Unterschiede tatsächlich 240 Jahre ausmachen?? 

Das TAM am Alten Markt in Bielefeld. Foto: Christian Schulz

Mit einem politischen Wunsch spielt der Titel der nächsten TAM-Produktion: „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ von Joël Pommerat am 13.1.24. Politisch nicht vorstellbar, aber es handelt sich hier um den Vergleich eines Mannes, der seiner Frau begegnet, aber an ihr vorübergeht. Möglichkeiten und Unmöglichkeiten des Zusammenlebens – ob in Liebe oder Hass – darum geht es dem Autor.

Arno Geigers Dramatisierung des Romans „Unter der Drachenwand“ kommt am 20.1.24 im Stadttheater auf die Bühne. Die Drachenwand ist eine Felswand am Mondsee im Salzkammergut. Nur ist im Drama gar nicht gut „lustig sein“ wie es ein Kalauer respektive Schlager vom Salzkammergut behauptet. Veit Kolbe ist zur Genesung nach Kriegsverwundung aus Wien zu seinem Onkel in den Ort gekommen, der nach dem See benannt ist. Er findet dort noch andere vom Krieg vertriebene Menschen vor, deren Schicksal vom weiteren Verlauf des Krieges bestimmt wird. Arno Geiger ist ein sehr vielstimmiges Porträt über den Alltag im Krieg weit ab von der Front gelungen, basierend auf zahlreichen Interviews.

Am 21.1.24 gehört das TAM einer Entertainerin: „Nicht mein Feuer“ heißt das Drama von Laura Naumann, das laut Rowohlt Verlag ein Solostück für eine Darstellerin ist. Stefan ist ein Macher und sein 55. Geburtstag steht an. Dreihundert Gäste sind in seine Villa geladen, das Motto lautet schlicht und ergreifend: »Glamour«. Champagner soll reichlich fließen und für die Unterhaltung ist die*der Entertainer*in zuständig: Musik, Gags und gute Laune. Kein Problem! Das ist schließlich der Job. Aber wo bleibt der Gastgeber? Bevor sich beklemmende Stille ausbreiten oder gar Unsicherheit aufkommen kann, ergreift der*die Entertainer*in das Wort. Und zerlegt die Welt mit Fragen. Die Sternchen weisen vermutlich darauf hin, dass die Vorstellung auch von einem Mann bestritten wird.

Und dann wird es woke

Am 8.3.24 wird’s im TAMzwei woke. David Gieselmann bringt ein Zeitstück, das unmittelbar auf die Gegenwart reagiert auf die Bühe. Titel: „en woke“, so ein wenig mit dem altmodischen (?) Begriff „en vogue“ spielend, womit bekanntlich Dinge, Themen, die gerade aktuell sind, gemeint werden. Um hyper-aktuell an komischen Konstellationen, lokalen Weltereignissen, woken Debatten, Verwerfungen, Irrtümern und Gewissheiten der post-merkelschen Zeitenwende in und um Bielefeld entlang Theater zu machen, verkürzen wir diesen Weg: Was David Gieselmann schreibt, bringen die Schauspieler*innen direkt auf die Bühne. Innerhalb weniger Wochen entsteht ein Stück vom ersten Satz bis zur fertigen Inszenierung. Und damit es auch noch bei der zehnten Vorstellung nicht out und passé ist, wird es beständig aktualisiert und mit neuesten News gefüttert. Das verlangt von allen Beteiligten höchste Genauigkeit und Improvisationsfähigkeit.

Im Stadttheater wird ein weiteres Stück Bildungsgut vorgestellt: „Was ihr wollt“ von Shakespeare ab 9.3.24. Schon Shakespeare kannte das Spiel mit Geschlechterrollen, mit Sein und Schein, Fremd- und Selbstverliebtheit. Wie viel So-tun-als-ob liegt also in unserer Identität? Wo ist die Grenze zwischen Maske und Gesicht? Und spielt das alles überhaupt eine Rolle?

Apokalypse und Wohlstand

Als vorletzte Premiere bittet Konrad Kästner unter dem Arbeitstitel „Apokalypse, bitte!“ am 16.3.24 ins TAM. Die Ironie im Titel ist unüberhörbar. Die Auftragsarbeit des Theaters wird um Krisen wie unkontrollierte Erderhitzung, Cyberattacken, Inflation, Dürre, Überschwemmungen, Erdbeben, zusammengebrochene Lieferketten, Stromausfälle, der drohende Atomkrieg … kreisen. Oder auch nicht. Wer das nicht mehr hören kann oder will, wird herzlich eingeladen, der Apokalypse zu begegnen: Wir laden dich ein in unseren Bunker: Hier ist alles durchdacht, alles funktioniert. Es gibt sogar Klopapier. Hier muss keiner Angst haben. Egal, was da draußen passiert – wir sind bereit. Nach Abenden wie Faust 2 und Das Material bringt Konrad Kästner mit Apokalypse, bitte! (Arbeitstitel) einen neuen Video-Theater-Essay an der Grenze zwischen Dokumentation und Fiktion auf die Bühne.

Gün Tank eröffnet mit ihrem Buch “Die Optimistinnen” eine neue Perspektive auf die Geschichte der Gastarbeiterinnen. | Bild: Bayerischer Rundfunk

Zum guten Schluss wird es eine Bearbeitung des Romans von Gün Tank „Die Optimistinnen“ am 17.5.24 im TAM geben. Die Dramatisierung dieses Romans wird im Haus hergestellt. Das Thema ist so alt wie die Diskussion um die Frage, wie in Deutschland der Wohlstand gesichert werden kann. Wobei ja nie die Frage gestellt wird, welches Wohlstandsniveau erhaltenswert ist. Schon als die ersten Gastarbeiter, wie man die Arbeitsmigranten damals nannte, vor gut 60 Jahren nach Deutschland kamen, begann diese Diskussion, die bis heute anhält. Nur dass man heute nicht mehr Gastarbeiter sagt – heute braucht man zur Wohlstandssicherung Facharbeiter. Gün Tank nun richtet den Blick in dieser Frage weg von den Männern auf die Frauen. Gün Tanks »Roman unserer Mütter« füllt eine Leerstelle in der männlich geprägten Geschichte der sogenannten »Gastarbeiter*innen«. Er erzählt von (weiblicher) Solidarität und dem enormen Beitrag, den diese Frauen deutschlandweit im Arbeitskampf geleistet haben. Von der deutschen Öffentlichkeit ähnlich unbeachtet blieb auch die Musik dieser Communities, die – wie schon bei der Produktion Istanbul aus der Spielzeit 2016/17 – wesentlicher Bestandteil des Bühnengeschehens sein wird.

Im jungplusX-Bereich gibt es wieder Produktionen, bei denen unter Anleitung Laien Produktionen selbst erarbeiten bei vorgegebenen Themen.

Soweit ein Überblick über die Schauspielsaison 23/24 in Bielefeld. Was fällt auf? Wie im Musiktheater geht es oft um starke Frauen bzw. deren Unterdrückung, aus der wenig bis gar keine Aussicht auf Besserung besteht, geschweige denn Emanzipation. Das klingt resignativ, aber der Fortschritt ist nun mal eine Schnecke und mit Blick auf die aktuelle Situation im In- und Ausland ist der nun mal nicht immer zu erkennen. Und auch hier: Das Theatermotto „Ach“ erhält wieder vielfältige Ausdrucksmöglichkeiten.

Autor*in: Uli Schmidt

Seit langem bekannt als "Der Kulturbote" aus Ostwestfalen: So empfängt Uli Schmidt heutzutage seine Gedankenblitze.