Von Zirkus- und anderen Kindern

Die Welt als Wille und (Zirkus)-Vorstellung: Han, Kawase, Isenbürger, von Linden, Skliarenko, Čiča, Boyce, Bijelić, Park, Alexiev, Balbo (v. links) in Nadja Loschkys bezwingender "Zasà"- Inszenierung (Fotos: Bettina Stöß)

Was für ein Abend! Im Stadttheater Bielefeld feiert Ruggero Leoncavallos commedia lirica „Zazà“ eine glanzvolle Premiere. Nahezu atemlos verfolgt das Publikum die amour fou von Zazà (Dušica Bijelić), die ein Wechselbad der Gefühle durchmacht.

Zazà ist der Star eines kleinen Wanderzirkusses, entdeckt und geformt vom Chef des Unternehmens, Cascart (Evgueniy Alexeiv). Und eigentlich sind die beiden ein Paar. Wenn da nicht auf einmal Milio (Nenad Čiča) auftauchte, eleganter, aber gewissenloser Geschäftsmann mit Hang zum Halbseidenen. Den hat Bussy (Todd Boyce), Dichter sowie Verfasser von Zazàs Liedtexten und ebenso halbseiden wie sein Freund Milio, angeschleppt. Bussy wettet mit Zazà, dass es ihr nicht gelingen werde, Milio herumzukriegen. Damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf.

Alles Liebe oder was?

Und während Zazà und Milio turteln und schäkern, zeigt die Zirkusbesatzung den Charme der Hinterbühne mit Proben, Musik, Artistik und großem Gewusel und Durcheinander, das gern von Pastis oder stärkeren Getränken begleitet wird. Im zweiten Akt befindet sich das Paar in ihrem wenig einladenden Zimmer, und man merkt, der eiskalte Milio hat Feuer gefangen. Leider, leider müsse er jedoch geschäftlich verreisen, weshalb er dann irgendwann doch endlich einmal zum Bahnhof aufbricht.

Bevor Zazà ihm nacheilen kann für den soundsovielten Abschiedskuss, versucht Cascart seinen Bühnenstar zurückzuführen ins normale Leben. Er weiß, dass Milio in Paris Frau und Kind hat und dass er für längere Zeit geschäftlich in die USA reisen wird. Das glaubt Zazà ihrem Entdecker und Förderer nicht, weshalb sie mit ihrer Freundin Natalia (Mayan Goldenfeld) nach Paris aufbricht.

Dort trifft sie zunächst niemanden an, denn Milios Frau begleitet ihren Mann zum Bahnhof. Dem Butler hat sie eingeschärft, wenn eine Frau Dunoyer komme, sie möge bitte warten. Also tritt Zazà als Frau Dunoyer auf und während sie und Natalia im Vorzimmer warten – geniale Idee, das Vorzimmer Milios im Grundriss aussehen zu lassen wie Zazàs Zimmer nur viel, viel edler ausgestattet (Bühne Manuel La Casta) – , erscheint zunächst Milios Tochter Totò (Mira Balci), die eigentlich nur Klavier üben will. Aber dann erzählt sie von der bevorstehenden USA-Reise und wie sehr sie sich darauf freut, weil sie dann den Papa endlich mal längere Zeit für sich hat.

Paris, sans amour

Zazà, an ihre vaterlose Kindheit denkend, beschließt, sich von Milio zu trennen. Und als Totòs Mutter zurückkommt, verlässt sie schnell das Haus. Zurück beim Zirkus, der seine Zelte abschlägt, und dementsprechend schäbig ist die Szenerie, kommt es zum hochdramatischen Schluss. Zwar ist auch Milio willens, die Affäre zu beenden, aber weder sein Geist noch sein Fleisch sind wirklich willig. Zazà geht es zunächst nicht anders.

Doch dann gewinnt ihr Rest an Realitätssinn Oberhand. Sie sagt ihm auf den Kopf zu, dass sie in Paris war, seine Tochter und seine Frau kennengelernt hat, und dass seine Frau alles weiß. An diesem Punkt verliert der Geschäftsmann die Fassung; er beleidigt Zazà so sehr, dass sie seinen wahren Charakter erkennt. Eben war sie noch schwankend gewesen, ob da nicht vielleicht doch noch… da gesteht sie ihm die Lüge. Sie hat sich nicht zu erkennen gegeben, was er erleichtert zur Kenntnis nimmt. Aber nun verdammt sie ihn und er zieht ab wie ein begossener Pudel.

Wahr- und Wirklichkeiten der Oper

Ruggero Leoncavallo hat das Libretto zu dieser Oper selber geschrieben. Anders als der von ihm verehrte Richard Wagner hat er jedoch einen sehr realistischen Text verfasst nach einem Drama von Pierre Berton und Charles Simon. Aus eigener Kenntnis beschrieb er das Leben hinter der Bühne der damals als “Café-Chantant” bekannten Etablissements ebenso wie das der Varietés. Es waren die dunklen Ecken, in denen nicht nur Gesang und Tanz stattfanden, sondern auch Raub, Mord und Prostitution. Und eben auch solche Liebesgeschichten wie die von Zazà und Milio. Dieses realistische Leben, umgesetzt in Oper, trug zur damaligen Zeit den Titel Verismo.

Mit seiner bis heute als eigentlich einzigen bekannten Oper Pagliacci/Der Bajazzo gilt Leoncavallo als einer der ganz Großen dieses Genres. Sehr überraschend, dass trotz der Uraufführung von Zazà unter Arturo Toscanini am 10. November 1900 in Mailand, diese Oper mittlerweile eher unbekannt ist. Dabei hätte sie es verdient, nicht nur sporadisch, sondern öfter gespielt zu werden. Vielleicht steht dem entgegen, dass diese Oper kaum „süffige“ Arien enthält. Doch das ist Programm im Verismo. Ebenso gehört dazu, dass die Protagonisten einfache Leute sind mit Beziehungsproblemen, deren Lösung nicht immer konfliktfrei gelingt. Vermutlich hat aber auch der Siegeszug des Stummfilms mit zum schnellen Untergang der Verismo-Opern beigetragen.

Kluge Ausnutzung der Spielräume

Regisseurin Nadja Loschky lässt die Handlung hinter dem Zelt eines Wanderzirkusses beginnen. Dazu nutzt sie die ganze Bühnenbreite und –tiefe (Bühne Manuel La Casta), um mit gestaffelten Räumen den Agierenden den nötigen Platz zu geben. So können die Artisten ihre Übungen ungestört vollziehen. Der Bär z.B. probt für seinen Auftritt; andere stehen in Ecken, unterhalten sich. Zazà müsste eigentlich eine neue Nummer einstudieren, was aber verhindert wird durch das intensive Kennenlernen des angeblich eiskalten, desinteressierten Milio. Unterdessen stört Zazàs Mutter – auf der Suche nach Alkohol – die Szene. Kurzum: man hat Mühe, in dem Gewusel den Durchblick zu behalten.

Die Szene wird musikalisch vom Philharmonischen Orchester unter der Leitung von Generalmusikdirektor Alexander Kalajdzic wunderbar illustriert und belebt. So, könnte man sich vorstellen, war vielleicht die Stimmung in Fellinis Film La Strada. Der Musik ist anzuhören, dass Leoncavallo sich in Paris als Klavierbegleiter und als Pianist in eben diesen Varietés und Cafés-Chantants durchschlug. Er kannte sein Sujet. Doch die Weite des Bühnenraumes im ersten Akt täuscht. Der zweite und dritte Akt spielen auf der Vorbühne in engen Räumen. Da wird optisch angedeutet, aus seiner engen Behausung – geistig wie real – kommt hier keiner raus. Ebenso verdeutlicht der Schlussakt, der den Zirkus im Abbruch zeigt, dass der Traum vom großen Glück bzw. der großen Karriere ausgeträumt ist.

Sternstunden des großen Gesangs

Der Abend gehört Dušica Bijelić, die als Zazà eine wahrlich große Rolle gestaltet mit nicht nur emotionalen Höhen und Tiefen, sondern auch genau zu erkennen gibt, was sie wann und wo erreichen will. Sie kokettiert mit Milio im ersten Akt, wenn sie ihn erobern will. Da ist sie keineswegs passiv, denn Milio will erobert sein. Sie ist aber ebenso hart, als sie realisiert, dass sie für Milio doch nur ein Zeitvertreib war. Sie erkennt ihr Unglück und befreit sich selber daraus.

Staunen kann man nur, mit welch scheinbarer Leichtigkeit Dušica Bijelić die verschiedenen Facetten dieser schwierigen Rolle in allen Höhen und Tiefen bewältigt. Milio, die andere große Partie in dieser Oper, wiederum scheitert an sich. Zwar kommt er mit dem Vorsatz der Trennung von Zazà noch einmal aus Paris zurück zu ihr, aber das Fleisch ist stärker als sein Geist. Er kann also nur von Zazà verdammt werden. Von sich aus kann er die Trennung nicht vollziehen. Nenad Čiča gestaltet seine Rolle in diesem Spannungsverhältnis ausdrucksvoll und mit wunderbarer Tenorstimme.

Der geradezu ohrenbetäubende Jubel, der Dušica Bijelić entgegen schwoll, als sich der Vorhang wieder hob nach dem Schlussakkord und schier nicht enden wollte, war für die schweißtreibende und anstrengende Arbeit mehr als verdient. Die Begeisterung des Publikums für alle Sängerinnen und Sänger sowie für das Leitungsensemble bestätigte einen wahrhaft großen Theaterabend.

Autor*in: Uli Schmidt

Seit langem bekannt als "Der Kulturbote" aus Ostwestfalen: So empfängt Uli Schmidt heutzutage seine Gedankenblitze.